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530 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Stumms beruflichen Werdegang beim kakanischen MilitÀr entfaltet Musils
Roman in einer ungewöhnlichen AusfĂŒhrlichkeit, was auf die Wichtigkeit der
Figur fĂŒr dessen Gesamtanlage verweist : âEr hatte ursprĂŒnglich bei der Ka-
vallerie gedient, aber er war ein untauglicher Reiter ; seine kleinen HĂ€nde und
Beine eigneten sich nicht zur Umklammerung und ZĂŒgelung eines so törich-
ten Tiers, wie es das Pferd ist, und es fehlte ihm auch der befehlshaberische
Sinnâ (MoE 342). Dieser karikaturhaften Schilderung zufolge ist Stumm von
Bordwehr körperlich und charakterlich eigentlich ungeeignet fĂŒr die militĂ€ri-
sche Laufbahn, zumindest was die Kavallerie betrifft. Dementsprechend zieht
er auch schon frĂŒh den Spott seiner Befehlshaber auf sich ; so erwĂ€hnt der
ErzĂ€hler, âdaĂ seine Vorgesetzten zu jener Zeit von ihm zu behaupten pfleg-
ten, er sei, wenn man eine Eskadron im Kasernhof mit den Köpfen, statt, wie
es gewöhnlich geschieht, mit den SchwÀnzen zur Stallwand aufstelle, schon
nicht mehr imstande, sie aus dem Kaserntor zu fĂŒhrenâ (MoE 342). Schon
bei einem seiner ersten Auftritte im Roman wird dem nunmehrigen General
somit analeptisch und auf militÀrisch handfeste Weise auffallende Tölpelhaf-
tigkeit beschieden, die fĂŒr die textstrukturelle Funktion der Figur insgesamt
eine wichtige Rolle spielen wird. Stumm selbst neigt zu einer recht eigenwilli-
gen Form der Kompensation solcher frĂŒh erlittenen DemĂŒtigungen, die ihn in
ihrer SkurrilitÀt eben durchaus sympathisch erscheinen lassen :
Zur Rache hatte der kleine Stumm sich damals einen Vollbart wachsen lassen,
schwarzbraun und rund geschnitten ; er war der einzige Offizier in des Kaisers Kaval-
lerie, der einen Vollbart trug, aber ausdrĂŒcklich verboten war es nicht. Und er hatte
angefangen, wissenschaftlich Taschenmesser zu sammeln ; zu einer Waffensammlung
reichte sein Einkommen nicht, aber Messer, nach ihrer Bauart, mit und ohne Kork-
zieher und Nagelfeile geordnet, und nach den StÀhlen, der Herkunft, dem Material
der Schale und so weiter, besaĂ er bald eine Menge, und hohe Kasten mit vielen
flachen SchubfÀchern und beschriebenen Zetteln standen in seinem Zimmer, was ihn
in den Ruf der Gelehrsamkeit brachte. (MoE 342)
In seiner habituellen Ausgestaltung der Figur rekurriert Musil nicht nur auf seine
eigene kindliche Bewunderung fĂŒr die Petermandlâsche Taschenmessersamm-
lung, die er offenbar in den Steyrer Jahren seiner Familie gesehen hatte601, son-
dern â wichtiger noch â auch auf Kurt Lewins psychologisches Konzept602 der
601 Vgl. dazu Corino : Musil [1988], S. 375 ; Corino : Musil [2003], S. 903.
602 Als Erste auf diesen Kontext hingewiesen hat meines Wissens Bonacchi : Die Gestalt der Dich-
tung, S. 287 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208