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535âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
wachsenden sozialen Status verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen an
eine âsolideâ bĂŒrgerliche Existenz nicht auf Dauer verschlieĂen :
Als er spĂ€ter heiratete und ĂŒber kurz zwei Kinder samt ihrer ehrgeizigen Mutter zu
erhalten hatte, kam ihm erst ganz zu BewuĂtsein, wie vernĂŒnftig seine Lebensge-
wohnheiten frĂŒher gewesen waren, ehe er der VerfĂŒhrung zu ehelichen erlegen war,
wozu ihn zweifellos nur das etwas UnmilitÀrische verleitet hatte, das der Vorstellung
eines verheirateten Kriegers anhÀngt. Seit dieser Zeit entwickelte sich lebhaft ein
auĂereheliches Weibesideal in ihm, das er offenbar unbewuĂt auch vorher schon
in sich getragen hatte, und es bestand in einer milden SchwĂ€rmerei fĂŒr Frauen, die
ihn einschĂŒchterten und dadurch jeder BemĂŒhung enthoben. Wenn er die Frauen-
bildnisse ansah, die er in seiner Junggesellenzeit aus illustrierten Zeitschriften ge-
schnitten hatte â aber es war das immer nur ein Nebenzweig seiner SammeltĂ€tigkeit
gewesen â, so hatten sie alle diesen Zug ; aber er hatte es frĂŒher nicht gewuĂt, und
zu ĂŒberwĂ€ltigender SchwĂ€rmerei wurde es erst durch seine Begegnung mit Diotima.
(MoE 345)
Diotima freilich ist ĂŒber Stumms âSchwĂ€rmereiâ wenig erfreut, im Gegenteil.
Bereits nach seiner ersten persönlichen âAufwartungâ (MoE 267) Ă€uĂert sich
ihr abgrundtiefes Unbehagen : âDieser liebenswĂŒrdige General versetzte Di-
otima in tödlichen Schreckâ (MoE 267) â und das wohl nicht unabhĂ€ngig da-
von, âdaĂ die gewissenhaft schöne Frauâ aufgrund ihrer weitab von Soldaten
erfolgten Sozialisation âeine Vorstellung vom MilitĂ€r mit ins Leben nahmâ, die
âungefĂ€hrâ der âVorstellung eines mit bunten Lappen behĂ€ngten Todesâ ent-
spricht (MoE 268) ; sie reproduziert damit auch die allgemein antimilitÀrische
Haltung des aufstrebenden kakanischen BĂŒrgertums.609 Nicht von ungefĂ€hr
verspĂŒrt sie eine eigenartige und vorerst rĂ€tselhafte Beklemmung : â[A]ls der
General sich verabschiedet hatte, brach das Innere der hohen Frau ohnmÀch-
tig zusammen.â (MoE 268) Zwar ist die sensible SalonniĂšre âeines so niederen
609 Vgl. Kuzmics/Haring : Habitus und Reform in der Habsburger Armee, S. 121, zu den real-
historischen HintergrĂŒnden : âDie habsburgische Armee war kaisertreu, âunpolitischâ, aber im
groĂen Konflikt zwischen autoritĂ€r-hierarchischen, âfeudalenâ Prinzipien und jenen eines âlibe-
ralenâ, nach mehr politischer Beteiligung schreienden BĂŒrgertums an der Seite von Kaiser und
Adel. Das fĂŒhrte auf lange Sicht dazu, dass die Armee im Denken und FĂŒhlen feudal gesonnen
blieb, in der gesellschaftlichen Stellung isoliert war und in zuerst eindeutiger, spÀter etwas ab-
geschwÀchter Weise gerade von den dynamischsten und zukunftsorientiertesten Teilen der
Gesellschaft bekĂ€mpft bis ignoriert wurde.â Mehr noch : Wohl auch weil der âMilitarisierungs-
grad der österreichischen Bevölkerung [âŠ] bis 1914â vergleichsweise gering war (S. 122), sei
der âSchutzâ, den die k. u. k. Armee âvor den erstarkenden MĂ€chten Deutschland und Russ-
landâ gewĂ€hrt habe, von âden politischen Elitenâ unterschĂ€tzt worden (S. 124).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208