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536 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
GefĂŒhls wie Hassesâ gar nicht âfĂ€higâ, doch empfindet âsie eine dumpfe Belei-
digungâ und kann sich das selber nicht erklĂ€ren :
Sie öffnete trotz der WinterkÀlte die Fenster und rauschte mehrmals im Zimmer auf
und ab. Als sie die Fenster wieder schloĂ, hatte sie TrĂ€nen in den Augen. Sie war
sehr erstaunt. Das geschah nun schon zum zweitenmal, daĂ sie grundlos weinte. [âŠ]
Diesmal war das lediglich Nervöse des Vorgangs, dem kein Inhalt entsprach, noch
deutlicher ; dieser dicke Offizier trieb ihr die TrÀnen aus den Augen wie eine Zwiebel,
ohne daĂ ein vernĂŒnftiges GefĂŒhl mitsprach. Mit Recht [!] wurde sie davon beun-
ruhigt ; eine ahnungsvolle Angst sagte ihr, daĂ irgendein unsichtbarer Wolf um ihre
HĂŒrden schleiche und daĂ es hoch an der Zeit sei, ihn durch die Macht der Idee zu
bannen. (MoE 268)
Bei und nach ihrer ersten privaten Begegnung mit dem General fĂŒhlt sich
Diotima also von einem seltsam âunvernĂŒnftigenâ und âinhaltslosenâ GefĂŒhl
bedrĂ€ngt, aufgrund dessen sie scheinbar âgrundlosâ weint. Als ob er die Trif-
tigkeit ihrer âahnungsvollen Angstâ besonders hervorheben wollte, belĂ€sst es
Musils ErzÀhler nicht bei solchen subtilen Andeutungen einer von Stumm
ausgehenden diffusen Gefahr, sondern fĂŒgt ausdrĂŒcklich die Bemerkung an,
dass Diotimas Beunruhigung berechtigt ist. Worin die drohende Gefahr be-
steht, bleibt allerdings vorerst im Dunkeln, was den Verdacht in die verschie-
densten Richtungen anheizt und die Spannung aufmerksamer Leser und Le-
serinnen weiter steigert.610
Bezeichnend fĂŒr die Spezifik der Figurenkonstitution Stumms sowie fĂŒr
dessen Funktion in der Gesamtanlage des Romans ist auch der mysteriöse
Weg des Generals in die Parallelaktion, der in seiner seltsamen Vermittelt-
heit (vgl. MoE 167) gewisse Ăhnlichkeiten zum eigentĂŒmlichen Weg Ulrichs
dorthin aufweist, aber zunÀchst ein gÀnzlich offenes RÀtsel darstellt (vgl. MoE
340 f.). Erst im weiteren Romanverlauf wird geklÀrt, dass hier ebenfalls dritte
Personen die Rolle des Schicksals spielen, von denen es allerdings niemand
vermutet hĂ€tte : Rachel und Soliman âwaren es gewesen, die dem General
eine Einladung geschickt hatten, nachdem es zu ihrer Kenntnis gekommen
war, daĂ Ulrich mit ihm befreundet sei ; allerdings geschah es auch deshalb,
weil man die Dinge ins Rollen bringen muĂte und ein General nach der gan-
zen Vorgeschichte als eine dazu sehr geeignete Persönlichkeit erschienâ (MoE
496). Die Bedeutung der Freundschaft zwischen Ulrich und Stumm wird vom
ungleichen jungen Liebespaar sicher ĂŒberbewertet, worin sich eine Art âver-
610 Vgl. Cesaratto : Politik durch GefĂŒhlseinsatz, S. 194 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208