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537âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
kennender Anerkennungâ im Sinne Bourdieus ausdrĂŒckt.611 Einmal mehr er-
scheint so der eigentliche Beweggrund geschichtlich relevanter Entscheidun-
gen als Resultat einer Verkettung von MissverstÀndnissen. Von neuem wird
damit die romankonstitutive Rolle des Zufalls â stellvertretend fĂŒr die âontolo-
gische Kontingenzâ â akzentuiert, die auch dem kakanischen Staatsgrundsatz
des âFortwurstelnsâ zugrunde liegt und subkutan dem Weltkrieg den Boden
bereitet. Bei Diotima bewirkt das zunĂ€chst ungelöste RĂ€tsel denn auch âeinen
Schauder vom Scheitel bis zu den Sohlenâ, und dem General selber geht es
kaum anders :
Ăbrigens hatte auch er sich ein wenig ĂŒber die Einladung gewundert ; ihr nachtrĂ€g-
liches Eintreffen hatte ihn ĂŒberrascht, weil Diotima bei seinen zwei Besuchen sich
doch leider nicht das geringste von solcher Absicht hatte anmerken lassen, und es
war ihm aufgefallen, daĂ die, offenbar von Miethand geschriebene, Adresse in der
Bezeichnung und Anrede seines Ranges und Amtes Unrichtigkeiten aufwies, die ei-
ner Dame in Diotimas gesellschaftlicher Stellung nicht entsprochen haben wĂŒrden.
(MoE 341)
Abgesehen von solchen frĂŒhen impliziten Indizien fĂŒr die AbgrĂŒnde, die
hinter der Rolle des gemĂŒtlichen Generals verborgen liegen, suggeriert der
ErzÀhler explizit meist dessen völlige Harmlosigkeit. Just angesichts der iro-
nisch-provokanten These Ulrichs, âder Geistâ sei ânicht im Zivil zu finden,
und das Körperliche beim MilitĂ€râ, sondern es verhalte sich âgenau umge-
kehrtâ, wird etwa Stumms relative geistige KonventionalitĂ€t und TrĂ€gheit
infolge steter Subordination612 nahegelegt : âMan muĂ sich in Stumm von
Bordwehr versetzen ; seit der Kadettenschule war ihm alles vorgeschrieben
worden, von der Form der Kappe bis zum Heiratskonsens, und er verspĂŒrte
wenig Neigung, seinen Geist solchen ErklĂ€rungen zu öffnen.â (MoE 377) Ge-
rade im Blick auf den prekÀren Zusammenhang von Ordnung und Geist, den
611 Vgl. Bourdieu : Die feinen Unterschiede, S. 503â513, zum sozialen âAbstand zwischen wirkli-
cher Kenntnis und spontaner Anerkennungâ (S. 503), der das KleinbĂŒrgertum symbolisch vom
(Bildungs-)BĂŒrgertum trennt.
612 Kuzmics/Haring : Habitus und Reform in der Habsburger Armee, S. 109, nennen âGeistfeind-
lichkeit, EntscheidungsschwĂ€che, AutoritĂ€tsfixierung und feudale[n] Geistâ als typische Ele-
mente des Offiziershabitus der k. (u.) k. Armee. Mehr dazu ebd., S. 120 : âĂsterreichische Offi-
ziere fĂŒrchteten den Tadel ihrer Vorgesetzten mehr als den Feind, und das machte sie immobil
und unkreativ. Der âHabitus der UntĂ€tigkeit ohne besonderen Befehlâ blieb somit noch lange
bestehen und ĂŒberlebte offenkundig auch die VerbĂŒrgerlichung des habsburgischen Offiziers-
korps ohne Weiteres. Ăsterreichische Offiziere waren also pflichttreu, tapfer, aber unselbststĂ€n-
dig.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208