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538 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
er beharrlich zu ergrĂŒnden sucht, erweist sich der General selbst als intellek-
tuell unbeweglich und zunehmend sogar geistfeindlich eingestellt.613 Ein so
unflexibler Denker scheint aus Sicht des intellektuellen ErzÀhlers kaum dazu
angetan, eine wirkliche Gefahr fĂŒr die romaneske Gesellschaft darzustellen.
Dem entsprechen auch zahlreiche Befunde der Forschung, die aus der von
Musil dem Offiziersstand zugeschriebenen âMischung von militĂ€rischer Grau-
samkeit und zivilistischer GemĂŒtlichkeitâ hĂ€ufig nur Letztere, âabgeschwĂ€cht,
in den Roman eingegangenâ wĂ€hnt614, wĂ€hrend der eklatante Militarismus
meist ebenso wenig ernst genommen wird wie die Möglichkeit, dass Stumm
mit seiner ostentativen BehÀbigkeit eine ganz bestimmte Taktik verfolgt.615 So
sind laut Walter Moser die militÀrische Sprache und das militÀrische Gebaren
des Generals das âeindeutigste â weil bis zur Karrikatur [sic] ausgestaltete â
Beispielâ der âmimetisch abbildendenâ Funktion interdiskursiven Experimen-
tierens in Musils Roman616, wobei âeine einzelne gleichbleibende Diskursart
[âŠ] in bezug auf Aussageort und Objekt verschoben wirdâ : Stumms âDiskurs-
beherrschungâ beschrĂ€nke âsich praktisch auf eine einzige Diskursart, die er
konstant deplaziert und in unangebrachten Situationen anwendetâ.617 Dabei
ĂŒbersieht Moser freilich, dass just der aus dieser diskursiven BeschrĂ€nkung
entstehende Eindruck grenzenloser NaivitÀt der Figur des Generals das bei-
lĂ€ufige Aussprechen von sonst diskursiv âunsagbarenâ bzw. unerhörten Wahr-
heiten ermöglicht â dass der vorderhand so brave Stumm also einerseits ro-
manintern gewissermaĂen als Katalysator von auĂerdiskursiven Wahrheiten
dient, wodurch er in mancher Hinsicht an die erzÀhlerische Funktion der tra-
ditionellen Romanfigur des Tölpels bzw. des Schelms oder Pikaros erinnert.618
613 Vgl. die ausfĂŒhrlichen Analysen in Pennisi : Ein MilitĂ€r ohne Eigenschaften, S. 169â193, sowie
Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 341â350 ; ferner : Castex : MilitĂ€rischer und ziviler Geist,
S. 226 f.; Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 304 f.
614 So ebd., S. 302.
615 Vgl. auch HochstĂ€tter : Sprache des Möglichen, S. 54 : âDas Unvereinbare und trotzdem Ver-
bundene ist [in der Figur Stumms, N. C. W.] auf den kĂŒrzesten Nenner gebracht. Die Privat-
person, die unverwĂŒstliche LiebenswĂŒrdigkeit des Ăsterreichischen werden von den offiziellen
AnsprĂŒchen nur tangiert, nicht beherrscht. Beide SphĂ€ren deuten und ironisieren sich wechsel-
seitig, heben sich auf und bleiben auf kakanisch paradoxe Weise nebeneinander bestehen.â
616 Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 180.
617 Ebd., S. 187.
618 Vgl. GuillĂ©n : Zur Frage der Begriffsbestimmung des Pikaresken, S. 379â387, wo unter den
acht konstitutiven âKennzeichenâ (S. 379) des ânachdenklichen, sich verĂ€ndernden Pikaro[s]â
(S. 380) im Schelmenroman etwa âdie Gerissenheit des Gaunersâ genannt wird, âder sich mit
Pfiffigkeit durchs Leben schlĂ€gtâ, sowie âseine heitere Gelassenheitâ und âNeigung zu philoso-
phierenâ (ebd.). Es handle sich um einen âhalben AuĂenseiterâ, der durch âdie WidersprĂŒch-
lichkeit seiner Lageâ gekennzeichnet sei und der âzu allgemeinen SchluĂfolgerungenâ ĂŒber
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208