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539âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Ein paar Beispiele mögen das veranschaulichen : Bereits oben zitiert wurde
Stumms zwar tastende, aber zugleich sentenzenhafte Reflexion ĂŒber den Zu-
sammenhang zwischen Ordnung, Tod und Gewalt, die er Ulrich gegenĂŒber
im 100. Kapitel des Ersten Buchs zum Besten gibt :
[S]tell dir bloĂ eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort
eine vollkommene zivilistische Ordnung vor : so behaupte ich, das ist der KĂ€ltetod,
die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie ! [âŠ] Ich habe
so etwas Komisches im GefĂŒhl : ein VerstĂ€ndnis dafĂŒr, warum wir beim MilitĂ€r, die
wir die gröĂte Ordnung haben, gleichzeitig bereit sein mĂŒssen, in jedem Augenblick
unser Leben hinzugeben. Ich kann nicht ausdrĂŒcken, warum. Irgendwie geht Ord-
nung in das BedĂŒrfnis nach Totschlag ĂŒber. (MoE 464 f.)
Eine Ă€hnlich luzide Beobachtung stellt der General im 37. Kapitel (âEin Ver-
gleichâ) des Zweiten Buchs an, wo er unter Bezug auf Ulrichs (bzw. Musils)
vielstrapaziertes Menschenfresser-Gleichnis zumindest andeutungsweise und
prospektiv die Grundlagen der Goebbelsâschen Propagandapolitik (vgl. auch
Tb 1, 726) benennt :
Die Masse wird nur von Trieben bewegt, und dann natĂŒrlich von denen, die den
meisten Individuen gemeinsam sind : das ist logisch ! Das heiĂt, das ist natĂŒrlich unlo-
gisch : Die Masse ist unlogisch, sie benĂŒtzt logische Gedanken gerade nur zum Auf-
putzen ! Wovon sie sich wirklich leiten lĂ€Ăt, das ist einzig und allein die Suggestion !
Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht
die ihn umgebende Gesellschaft gelange bzw. die existierende âWelt in Frageâ stelle (S. 384 f.).
âDer Pikaro betrachtet [âŠ] die Lebensbedingungen einzelner Gruppen wie die der sozialen
Schichten, verschiedener Berufe, bestimmter Charaktertypen und die von StÀdten und Völ-
kern. Dieses Panorama [âŠ] ist ein stĂ€ndiger Anreiz fĂŒr die Satire und natĂŒrlich auch fĂŒr komi-
sche Wirkungenâ (S. 386). Die Schelmenromane haben deshalb âhĂ€ufig einen parodistischen
Charakterâ und weisen in den ErzĂ€hltext eingefĂŒgte âDigressionen, kurze Abhandlungen oder
Moralpredigtenâ auf (S. 385). âEin besonderer Nachdruck liegt auf der materiellen Seite des
Lebens [âŠ]. Es gibt [âŠ] keine GegenstĂ€nde, die der Betrachtung und der Anteilnahme un-
wĂŒrdig wĂ€ren.â (S. 385 f.) Wie deutlich geworden sein sollte, lassen sich die hier zitierten Kri-
terien auf die eine oder andere Weise auch auf Stumm von Bordwehr beziehen. In diesem
Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Pikaro als AuĂenseiterfigur, deren
Herkunft meist unbekannt ist, sich am Rande der Gesellschaft bewegt und seinen Ideenreich-
tum nutzen muss, um sein Ăberleben zu sichern â was ihn deutlich von Musils Stumm-Figur
abhebt. Der herkömmliche pikarische Schelm hat im Unterschied zu Stumm keine Aufstiegs-
ambitionen, solange er mit den lebensnotwendigen Dingen versorgt ist. Vgl. dazu auch Jacobs :
Der deutsche Schelmenroman, S. 29 ; Hoffmeister : Einleitung, S. 2.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208