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540 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
noch ein paar andere Kulturmittel ĂŒberantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar
Jahren â wie mein Freund Ulrich einmal gesagt hat â aus den Menschen Menschen-
fresser zu machen ! (MoE 1020)
Weitere durchaus hellsichtige Einsichten Stumms finden sich etwa im nachge-
lassenen Kapitelentwurf âBeschreibung einer kakanischen Stadtâ ; dort bemerkt
der General in fast aphoristischer PrĂ€gnanz : âWo es um erhabene Aufgaben
geht, hat man ja nie das GefĂŒhl, so reden zu dĂŒrfen, wie man wirklich ist ! ?â
(MoE 1450, nach M I/8/10) Ăhnlich treffend ist in unmittelbarer NĂ€he dieser
Stelle Stumms â freilich auf provokante Weise wertfreie oder gar versteckt af-
firmative â Analyse des Niedergangs des kakanischen Liberalismus und seiner
VerdrĂ€ngung durch das Prinzip der âEingeistigkeitâ und des âFĂŒhrersâ (MoE
1450â1453, nach M I/8/11â14). Wie solche und andere Beispiele zeigen, kann
Musil derart seinen Protagonisten Ulrich sowie seinen ErzÀhler und mithin
auch sich selbst als Autor vor politisch (zu) eindeutigen Stellungnahmen â und
damit vor möglichen Festschreibungen und Angriffen â bewahren, indem er
seine zumindest fĂŒr die damaligen VerhĂ€ltnisse provokanten Diagnosen nicht
ihnen, sondern dem als Tölpel geltenden General in den Mund legt und diesen
vorĂŒbergehend sogar âzum Sprachrohrâ eigener Positionen macht.619
Andererseits ist eine weitere, ja vielleicht die zentrale handlungskonstitutive
Funktion Stumms bisher nur ansatzweise gewĂŒrdigt worden. In den Ent-
wĂŒrfen zu einem Essay mit dem Arbeitstitel Das Ende des Krieges aus der un-
mittelbaren Nachkriegszeit begegnet Musil dem damals florierenden, recht
naiven politischen und literarischen Antimilitarismus mit folgendem Aufruf
zur Differenzierung : âDie Pazifisten sind schlechte Gegner des Militarismus,
weil sie Defaitisten sind. Sie mĂŒssen ihn erst verstehen.â (GW 8, 1345, nach
M IV/3/497) Getreu dieser Maxime gestaltet er nun den Vertreter des Mili-
tÀrs in seinem Roman, denn Stumms plakative Tölpelhaftigkeit ist Teil einer
geschickten politischen Taktik, auf die erst Alexander Honold620 und jĂŒngst
der amerikanische Germanist Todd Cesaratto621 hingewiesen haben : Sie er-
619 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 304, im Rekurs auf Menges : Ab-
strakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 145 ; zur Kritik daran vgl. KĂŒhn : Analogie und Varia-
tion, S. 83â85.
620 Vgl. Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 345 : âDie im Sommer 1914 zutage tretende Betei-
ligung des Generals an den AufrĂŒstungsplĂ€nen und sein Handel mit Arnheim zur Sicherung
kriegswichtiger Rohstoffe lassen im nachhinein die besonders im ersten Buch dominierenden
naiven ZĂŒge als raffinierte Kriegslist erscheinen.â
621 Eine von der Systemtheorie inspirierte und recht anregende Analyse der dabei angewandten
Taktik findet sich in Cesaratto : Politik durch GefĂŒhlseinsatz, bes. S. 197 f., 200 f. u. 204.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208