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541âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
laubt ihm nÀmlich, die in der Parallelaktion vorhandenen WiderstÀnde gegen
eine AufrĂŒstung und Militarisierung Kakaniens auf perfide Weise zu hinter-
treiben.622 Stumm fungiert somit als trojanisches Pferd des MilitÀrs innerhalb
der weniger den âAllerhöchsten Kriegsherrnâ (MoE 342) als vielmehr den
â88jĂ€hrigen Friedenskaiser[ ]â (MoE 88) feiernden Parallelaktion623, wozu er
den Anschein von Dummheit â bewusst oder unbewusst, aber jedenfalls effi-
zient â instrumentalisieren kann.624 Diese Konstellation, die einer ironischen
Note nicht entbehrt, hat Musil selber schon 1922 in Notizen zum Ende der
Parallelaktion aus dem Erlöser-Projekt skizziert :
Zum Schluss wird ein Ueberdreadnought [d. i. ein GroĂschlachtschiff, N. C. W.] ge-
baut. Der Militarismus als Resultante der ungerichteten KrÀfte. In Aussicht genom-
men, aber doch noch nicht spruchreif : die VerstÀrkung der Artillerie. Der General,
den alle als dummen Menschen behandeln, Typ BoroeviÄ, setzt das schliesslich ganz
mĂŒhelos durch. Man muss zeigen, wie einleuchtend seine Auffassung ist ! (M I/6/1)
Musil deutet in diesen metakonzeptionellen Ăberlegungen aus der frĂŒhen Pla-
nungsphase des Romans bereits die Taktik an, mit der Stumm seine vorgebli-
che Dummheit bei der Durchsetzung seiner politischen Ziele zu nĂŒtzen weiĂ.
Ein Grund fĂŒr die von Musil selbst bestĂ€tigte âwarmgetönteâ Zeichnung des
Generals (vgl. Br 1, 564) liegt neben der persönlichen WertschĂ€tzung fĂŒr das
biografische Modell Max Becher also offenbar auch in diesem zweischneidi-
gen Umstand, der meist auf die âHeterogenitĂ€tâ der figuralen âEntstehungs-
geschichteâ zurĂŒckgefĂŒhrt wurde625, aber darĂŒber hinaus auf ein bisher un-
terschÀtztes, doch durchaus folgenreiches soziologisches Charakteristikum
verweist : Der gutmĂŒtige Stumm â in Musils Worten ein ReprĂ€sentant âdes
feineren militĂ€rischen [Typus]â eines âMachtpolitiker[s]â (Tb 1, 434 f.) â eignet
sich nÀmlich zur idealtypischen Verkörperung des auch und sogar das Mi-
litĂ€r zunehmend erfassenden âstrukturellen Herrschaftsmodusâ der Moderne
622 Honold : Eigennamen bei Musil, S. 169, betont die konzeptionelle âAmbiguitĂ€t des Generalsâ,
âder zwar von seiner Umgebung unterschĂ€tzt werden sollte, nicht aber vom ErzĂ€hler verharm-
lost werden durfte. âStummâ ruhen in ihm, wĂ€hrend die anderen reden, die soldatischen Tugen-
den, und als die vaterlÀndische Aktionsgemeinschaft zu keinem Beschluà finden kann, bereitet
er ihr ein gewaltsames Ende. In dem unbeholfenen SĂ€belwicht steckt ein veritabler Kriegstrei-
ber, der die Beharrlichkeit in der Verfolgung seiner militĂ€rischen Interessen geschickt verbirgtâ.
623 Ăhnlich die Analyse von Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 344 f.
624 Eindeutiger noch Cesaratto : Politik durch GefĂŒhlseinsatz, S. 184, dem zufolge Stumm âsein
militĂ€risches Programm mit vorgetĂ€uscht einfĂ€ltigen GefĂŒhlsĂ€uĂerungen effektiv tarnen kann.â
625 Castex : MilitÀrischer und ziviler Geist, S. 229.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208