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542 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
besser als ein unsympathischer bzw. autoritĂ€rer âBlutgeneralâ, wie er in Mu-
sils Erfahrung die österreichisch-ungarische Armee hÀufig realiter geprÀgt hat
(BoroeviÄ, Pflanzer-Baltin). Dass dem Autor tatsĂ€chlich daran gelegen war, im
Kontrast zum historisch verbĂŒrgten ausgeprĂ€gten âKlassencharakter des öster-
reichischen Vielvölkerheeresâ und seiner brutalen âHerrscher ĂŒber Leben und
Todâ626 einen dezidiert âmodernenâ Offizier zu zeichnen, geht etwa Anfang
der dreiĂiger Jahre aus seiner im Arbeitsheft 34 festgehaltenen BefĂŒrchtung
hervor, sein fiktionaler âVorkriegsgeneralâ werde angesichts noch viel weiter
gehender realhistorischer Verflechtungen zwischen dem militÀrischen und
dem ökonomisch-industriellen Komplex allmĂ€hlich âunmodernâ (Tb 1, 841).
Wie man diese Angst des Schriftstellers vor einem Ăberholtwerden durch
den realen Geschichtsverlauf auch immer bewerten mag â den anderen Ro-
manfiguren, dem ErzÀhler wie auch den Lesern und Leserinnen fÀllt es je-
denfalls nicht leicht, Stumm gegenĂŒber jene pauschale Abwehrhaltung einzu-
nehmen, die von der antimilitaristischen Nachkriegsperspektive nahegelegt
wurde, denn dieser General besticht durch âMenschlichkeitâ. So bringt er Ul-
rich eines Tages heimlich in seiner ledernen Aktentasche âzwei Laibe Kom-
miĂbrotâ mit, weil er weiĂ, dass das Kommissbrot der kakanischen Armee
âdas einzige istâ, was dem Mann ohne Eigenschaften âan des Kaisers Dienst
gefallen hatâ ; mit dem neuen âMuster â1914ââ des Ă€rarischen Brots und mit
einem Glas Schnaps will er â ganz der gelĂ€ufigen Vorstellung einer solidari-
schen MĂ€nnerfreundschaft gemÀà â die MĂŒdigkeit des Freundes nach dessen
langer Reise vertreiben (MoE 773). Ein so ânetterâ Mensch â scheint es â kann
nichts Böses im Schilde fĂŒhren. TatsĂ€chlich ist Stumm im eigentlichen Wort-
sinn âverteufelt humanâ und durch eine strukturelle Ambivalenz geprĂ€gt, die
Ulrich unter der Hand selbst anklingen lĂ€sst, indem er feststellt : âDas ist aber
nett von dir, [âŠ] daĂ du mir nach einer durchreisten Nacht Brot bringst, statt
mich schlafen zu lassen.â (MoE 773)
In der Figur Stumms und ihrer sozialen Praxis veranschaulicht Musil mithin
jenes PhĂ€nomen, das Foucault als historische ErgĂ€nzung, ja allmĂ€hliche Ăber-
lagerung unterschiedlicher Machttypen beschrieben hat : Gemeint ist die Su-
perposition der im 17. Jahrhundert institutionalisierten âDisziplinarmachtâ627
und der diese seit dem 18. Jahrhundert begleitenden âNormalisierungsmachtâ
626 So Kuzmics/Haring : Habitus und Reform in der Habsburger Armee, S. 127. Die zuletzt zitierte
Formulierung stammt aus den Kriegserinnerungen Constantin Schneiders.
627 Foucault : Ăberwachen und Strafen, S. 229 ; vgl. dazu auch ders.: Der Wille zum Wissen,
S. 166 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208