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555âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Diese verhĂ€ngnisvolle Entwicklung, die in die totale âGleichschaltungâ der
dreiĂiger Jahre mĂŒnden sollte, konnte in Musils Roman freilich nicht mehr
vorgefĂŒhrt werden, ohne die in ihm angelegte anachronistische Spannung
zwischen kulturellen PhÀnomenen der ErzÀhlzeit und der erzÀhlten Zeit zu
ĂŒberdehnen. Immerhin aber analysiert er mit erstaunlicher Genauigkeit und
Hellsicht die sozialen und geistigen Wurzeln, aus denen die spÀtere national-
sozialistische Massenbewegung hervorging, und zeigt in der Figur Meingasts
sogar einen ihrer Vordenker bzw. wegweisenden Theoretiker.
Neben seiner kritischen Auseinandersetzung mit der militanten Rechten,
der er als gewaltlose Spielart des konservativen Prophetismus den (in der vor-
liegenden Arbeit u.a. aus PlatzgrĂŒnden nicht nĂ€her behandelten) christlichen
PĂ€dagogen und Pflichtethiker August Lindner an die Seite stellt,660 konstatiert
Musil nach dem Ende der Monarchie den Fortbestand eklatanter sozialer Un-
gleichheit ; im Arbeitsheft 8 hĂ€lt er fest : âAlle Generalstabsstabsoffiziere haben
Stellungen in der Industrie gefunden und dergleichen. Man hat so geschimpft
auf ihre mangelnde OrganisationsfÀhigkeit, trotzdem bringt man ihnen viel
Vertrauen entgegen.â (Tb 1, 408) Hier waren offenbar alte MĂ€nnerbĂŒnde und
Seilschaften am Werk. Dasselbe galt aber auch fĂŒr die âandere Seiteâ : âIm Bil-
dungsamt der Volkswehr hinwider sitzen Herr Luitpold Stern, Herr Oskar
Maurus Fontana und dergleichen.â (Tb 1, 408) In diesem Zusammenhang
sollte freilich nicht die ungleiche Machtverteilung ĂŒbersehen werden, die
wĂ€hrend der gesamten Zwischenkriegszeit die ĂŒberregionale Politik in Ăs-
terreich prÀgte und sozialdemokratische FunktionÀre nach dem Scheitern der
groĂen Koalition im Jahr 1920 wieder aus den staatlichen Ămtern drĂ€ngte.661
Dass Musil sich in den zwanziger Jahren wiederholt öffentlich fĂŒr sozialisti-
sche Ideen ausgesprochen hat662, liegt wohl auch in seinem Entsetzen ĂŒber die
dumpfe Einfalt und Ungerechtigkeit der alten Eliten begrĂŒndet, denen er sel-
ber angehörte. So notierte er im Arbeitsheft 8 zu Karl von Pflanzer-Baltin, ei-
nem (wie bereits ausgefĂŒhrt663) der âĂ€rgsten Blutgeneraleâ der österreichisch-
ungarischen Armee (Tb 1, 371) :
660 Vgl. dazu Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 348â360 ; ders.: Professor
August Lindner.
661 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 287 u. 291.
662 Vgl. etwa seine Ende 1918 erfolgte Unterschrift unter die aktivistische Programmschrift des
âPolitischen Rates geistiger Arbeiterâ, die in Kurt Hillers Jahrbuch Das Ziel veröffentlicht wurde,
sowie die UnterstĂŒtzungserklĂ€rung zugunsten der Wiener Sozialdemokratie vom 20.4.1927 ;
dazu Corino : Musil [1988], S. 264 u. 336 ; Amann : Musil â Literatur und Politik, S. 19 f.
663 Vgl. oben den Abschnitt zu Stumm von Bordwehr.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208