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561âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
begehren gegen die Elterngeneration, das offenbar sozial homogenisierende
Wirkung entfaltet.672 Es handelt sich bei den jungen Leuten zwar expressis
verbis nicht um âRasseantisemitenâ, sondern um eine religiös bewegte Ju-
gendkultur, deren Antisemitismus allerdings im Verlauf des Romans immer
mehr in einen pseudowissenschaftlichen, faschistoiden Rassismus umschlagen
wird.673 Musils Darstellung entspricht hier der ideologiegeschichtlichen Radi-
kalisierung vom christlichsozialen Wiener Volkstribun Karl Lueger um 1900,
der sich des Antisemitismus zu populistischen Zwecken bediente, ĂŒber die
sektiererischen Wiener Antisemiten vom Schlage eines Guido (von) List674,
Jörg Lanz von Liebenfels oder Otto Weininger zu dem ebenfalls von Wien
geprĂ€gten spĂ€teren âFĂŒhrer des deutschen Volkesâ Adolf Hitler. Aus bloĂen
âGegner[n] der âjĂŒdischen Gesinnungââ werden demgemÀà im Mann ohne Ei-
genschaften sukzessive AnhĂ€nger des âgroĂen Rasseforscher[s] Bremshuberâ,
seines Zeichens âApothekerâ aus âSchĂ€rding an der Laaâ675, der mit Billigung,
ja Zustimmung des Kreises um Hans Sepp âdie schonungslose UnterdrĂŒckung
aller Andersrassischenâ fordert (MoE 1017 f.). Diese historisch gerade in Aka-
demikerkreisen belegte Entwicklung676, die einem rassistischen Terrorismus
den Boden bereitete, zeichnet sich romanintern bereits wÀhrend der ersten
Auftritte Hansens in dessen emphatischer Vorstellung vom âAriertumâ ab, das
letztlich immer irgendwie rassisch begrĂŒndet sein muss. Alles in allem liegt
hier jedenfalls eine völlig inhomogene ideologische Mixtur vor, die nicht nur
672 Eine Systematisierung und ideengeschichtliche Einordnung der synkretistischen ideologischen
VersatzstĂŒcke versucht Howald ebd., S. 326â330. Vgl. dazu Ulbricht : Deutschchristliche und
deutschglĂ€ubige Bewegungen, S. 501â503.
673 Vgl. Strutz : Politik und Literatur, S. 27 f.; Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekri-
tik, S. 330 ; Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 233 f., Anm. 2.
674 Hans Sepps Verweis auf âdas germanische, den TrĂ€gern versprengten Germanenbluts zuge-
eignete Erlebnisâ (MoE 557) erinnert an Guido (von) Lists obskure âLehreâ von der âario-ger-
manischen Herrenmenschheitâ, die von einem Kontinent am Nordpol stamme, sich wĂ€hrend
der Eiszeit in den SĂŒden versprengt sowie dort rassisch vermischt habe und durch eine strikte
Rassentrennung wieder gereinigt herzustellen sei ; vgl. Hamann : Hitlers Wien, S. 295 f.
675 Das reale SchĂ€rding liegt freilich â wie das nicht weit entfernte Braunau, der Geburtsort Hitlers
â am Inn. Indem Musil die Stadt im Roman an einem Phantasiefluss situiert (vgl. nur das nie-
derösterreichische Laa an der Thaya), schrÀnkt er die unmittelbare Decodierbarkeit ein, lÀsst
die Anspielung aber fĂŒr âEingeweihteâ unter der OberflĂ€che bestehen ; vgl. dazu Strutz : Politik
und Literatur, S. 27. Dieselbe Funktion hat der Familienname Bremshuber, der sich auf den
Geburtsnamen von Hitlers Vater Alois Schicklgruber reimt ; vgl. Corino : Musil [2003], S. 1258.
676 Schnitzler : Jugend in Wien, S. 155, bestÀtigt, dass auch und gerade in studentischen Wiener
Kreisen âdas nationale Moment immer stĂ€rker betont wurdeâ und deshalb die Unterscheidung
âzwischen christlichen und jĂŒdischenâ Kommilitonen sukzessive durch jene âzwischen arischen
und semitischen Elementenâ ersetzt wurde.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208