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575âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Dieser Logik zufolge beschreibt der antisemitische Diskurs ex negativo die ver-
borgenen WĂŒnsche seiner Urheber und VerstĂ€rker. Dass dem sich idealistisch
gebenden Antisemitismus der Nazis und ihrer VorlÀufer nicht zuletzt ein öko-
nomisches Motiv zugrunde liegt, hat auch Musil erkannt, wie aus einem Ein-
trag in sein Arbeitsheft 30 aus den spĂ€ten dreiĂiger Jahren hervorgeht :
Carlyle könnte sagen : Man hat die Juden vertreiben wollen, das sei zugegeben. LieĂe
man sie nun mit ihrem Kapital abwandern, so wÀre es ein schwer gutzumachender
Schaden ; und den Einzelnen dem Ganzen zu opfern, ist seit dem Krieg Usance ge-
wesen. Also hat man ihr Kapital genommen. Und weil es doch schlecht ausgesehen
hĂ€tte, hat man aus dem Eigennutzdelikt ein Leidenschaftsdelikt machen mĂŒssen. Da-
rum also der wilde, nicht zu mildernde Antisemitismus. Zu Ehren des Vaterlands. (Tb
1, 740)
Es scheint freilich etwas ĂŒberzogen, die literarische Figur des jugendbewegten
Studenten Hans Sepp in dieser Hinsicht umstandslos mit den realen Nazis
zu identifizieren719, die erst nach Fertigstellung des kanonischen Romantexts
ihre unselige Ideologie in die Tat umsetzten (vgl. aber MoE 1856). Denn wenn
Hans demonstrativ in âKeuschheitâ (MoE 311) lebt, weil âer die seelische
Reife fĂŒr die Tatung seiner GrundsĂ€tze bei sich und Gerda noch nicht fĂŒr ge-
kommen erachtete und ein Riegel gegen die EinflĂŒsterungen der niederen
Natur ganz nach seinem Sinne warâ (MoE 312), wie der ErzĂ€hler im Tonfall
der fiktionalen Figur ironisch berichtet, dann hÀlt diese sich im Unterschied zu
den historischen Exekutoren des Antisemitismus offenbar selbst an ihre ver-
queren Prinzipien : âdenn nur Sinnlichkeit will Besitz, ist aber jĂŒdisch-kapitalis-
tischâ (MoE 311). In Hans Sepps stĂ€ndigen AusfĂ€llen gegen âBesitzâ und den
als substanziell jĂŒdisch imaginierten Kapitalismus Ă€uĂert sich indes zugleich
die von Bourdieu analysierte Dialektik des Ressentiments, das als âeine Re-
volte aus UnterwĂŒrfigkeitâ bezeichnet werden kann : âDie EnttĂ€uschung stellt,
719 Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 333, meint, dass Musil in der Figur des antise-
mitischen Studenten âsehr genauâ jenen âprĂ€faschistische[n] Typus christlich-germanischer
PrĂ€gungâ zeichne, der in den dreiĂiger Jahren zuerst im katholischen StĂ€ndestaat und dann im
Nationalsozialismus Karriere machen sollte : âHans Sepp reprĂ€sentiert die bildungsbĂŒrgerliche
AusprĂ€gung des autoritĂ€ren Charakters, des Ideologen und spĂ€teren SchreibtischtĂ€tersâ. Diese
â zwar suggestive â Deutung sei hier allerdings angezweifelt : TatsĂ€chlich kann sich der mys-
tisch bewegte Hans Sepp gerade nicht in die militĂ€rische Unterordnung und Disziplin einfĂŒgen,
wie sein spĂ€teres letales Schicksal beim MilitĂ€r zeigt (vgl. MoE 1390, 1395, 1597â1601, 1606 f.
u. 1611â1615) â was den ideologischen Hitzkopf kaum zum kĂŒhlen SchreibtischtĂ€ter prĂ€desti-
niert.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208