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576 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
durch den sich darin offenbarenden Ehrgeiz, ein EingestÀndnis der Anerken-
nung darâ720 â der Anerkennung freilich nicht derer, die besitzen, sondern des
Besitzes schlechthin, der in Hansens Projektionen offenbar nur anders verteilt
sein mĂŒsste.721
Wohl auch aufgrund solcher uneingestandenen, aber dennoch wahrnehm-
baren, deutlich eigeninteressegeleiteten Impulse betrachtet Ulrich Hans Sepp
als âunklaren Schmutzfinkâ (MoE 562) â dies eben nicht nur im wörtlichen,
sondern vor allem im ĂŒbertragenen, geistigen Sinn : Er, âder Student mit dem
unreinen Teint und der umso reineren Seeleâ (MoE 482), lebt trotz all sei-
ner ĂŒbersteigerten Reinheitsphantasmen auf schĂ€bige Art von der Projektion
seiner uneingestandenen eigenen WĂŒnsche in den als Juden diskriminier-
ten Vater seiner Freundin und verschleiert diese Konstellation durch einen
Schwall pathetischer Verlautbarungen. Der ansonsten zurĂŒckhaltende Ulrich
bezieht in diesem Konflikt mit ungleichen Waffen gegenĂŒber Gerda ĂŒberra-
schend deutlich Stellung : âIhre Freunde quĂ€len Sie mit Ihrem Vater und sind
die schrecklichsten Erpresser, die ich kenne !â (MoE 313) Der Konnex von
verheiĂener Erlösung und real ausgeĂŒbtem diskursivem Terror wird hier ohne
Umschweife explizit gemacht. Gerda kann sich zu ihrer eigenen Verteidigung
und zu der ihrer problematischen Freunde vor Ulrich nur auf ihre Jugend-
lichkeit berufen, die â wie der ErzĂ€hler an anderer Stelle maliziös andeutet
â allerdings schon lĂ€ngst im Schwinden begriffen ist722 : ââSie selbst sind kein
junger Mensch mehr,â entgegnete sie âSie denken anders als wir !ââ (MoE 313)
WĂ€hrend sich ihre Mutter Klementine (nur in Abwesenheit Leos) darĂŒber
wundert, dass sie ânicht die fortgesetzte Beleidigung ihrer Elternâ bemerkt,
die darin liege, dass ihr Freund Hans im elterlichen Haus âunaufhörlich seine
Weltanschauungâ predige, âobgleich sie sonst immer ein gutes und herzliches
Kind gewesen istâ (MoE 309), quittiert die unbelehrbare Tochter solche Vor-
haltungen bloĂ mit der Bemerkung, ihre Eltern seien âaltmodischâ (MoE 309).
720 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 41.
721 Die hier unternommene Deutung entspricht in ihrer Tendenz dem von Howald : Ăsthetizismus
und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 332, diagnostizierten âerste[n] Ansatz, mit dem Musil die
Figur Hans Sepp einer Kritik unterzieht : indem er dessen Theorien aus seiner unbewÀltigten
persönlichen Lage ableitet. In einem zweiten Ansatz erprobt Musil Hans Sepps Theorie in
der Praxis, und zwar in zwei HandlungsstrĂ€ngen.â Letzteres â gemeint ist die verklemmte Lie-
besgeschichte mit Gerda sowie die ernĂŒchternden Erfahrungen beim MilitĂ€r â kann hier aus
PlatzgrĂŒnden nicht breiter entfaltet werden.
722 Vgl. etwa eine Charakterisierung Gerdas durch Ulrich, die allerdings vom ErzÀhler kolportiert
wird : âSchlaffer FrĂŒhling, durchglĂŒht von vorzeitiger Sommerstrengeâ (MoE 489 ; vgl. auch
MoE 563 u. 622).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208