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577âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Auf diese Weise bestÀtigt sie indirekt nicht nur die Funktion von ideologischen
Strömungen als distinktiver Einsatz in besagten Generationenkonflikten723,
sondern auch die damit zusammenhÀngende hochgradige Zeitverhaftetheit
des grassierenden modischen Antisemitismus.724
Insofern ist es verstÀndlich, dass Musil bereits 1920, als er mit Blick auf sei-
nen zukĂŒnftigen Roman die âZeitfigurenâ (Tb 1, 426) erstmals skizzierte, dem
PhĂ€nomen des Antisemitismus einen gebĂŒhrenden Stellenwert reservierte ; so
heiĂt es im Arbeitsheft 8 : âRassentheoretiker zeichnen. Etwa Chamberlain
zum Vorbild nehmen. Diese Gesellschaft hatte groĂen EinfluĂ.â (Tb 1, 408)
Dass es sich schon hier um die erzÀhlerische Ausgestaltung und gleichsam so-
ziologische Analyse des Kreises um Hans Sepp und Gerda Fischel handelt, bei
der Musil ganz offensichtlich an der unseligen historischen Wirkung Houston
Stewart Chamberlains im geistigen Leben Wiens vor 1914 Modell nahm725,
geht aus folgender ErgĂ€nzung hervor, die er seinen Notizen hinzufĂŒgte :
Man muss ihre und die in andren Köpfen angerichtete Verwirrung zeichnen : etwa in
dem jungen freideutschen MÀdchen. Sein BrÀutigam ist so : Student, von den Eltern
nicht gern gesehen. Anders [die VorgÀngerfigur von Ulrich, N. C. W.] ist nur sachlich
gegen ihn, aber natĂŒrlich wird das im MĂ€dchen ein Kampf um die Liebe. Ihre gei-
stige Hinneigung wird leibliche. / Nicht vergessen, den Idealismus in diesen jungen
Menschen zu zeichnen. Eine wohl ausgebildete Funktion mit falschen Inhalten. (Tb
2, 1113, nach M I/6/47)
Auf die demnach durchaus auch ein positives Potenzial bergenden Aspekte
des angesprochenen âIdealismusâ wird noch zurĂŒckzukommen sein.726 Auffal-
723 Vgl. auch folgende Bemerkung des ErzĂ€hlers : âSie liebte ihren jungen Freund [Hans, N. C. W.]
eigentlich nicht sehr ; weit mehr war es der Gegensatz zu ihren Eltern, den sie in AnhÀnglich-
keit an ihn ĂŒbersetzte.â (MoE 312)
724 Ihre Mutter Klementine dagegen beteuert scheinheilig, âsie wolle nicht ĂŒber den Antisemitis-
mus klagenâ, denn âder sei eine Zeiterscheinung, und darin mĂŒsse man nun einmal resigniert
sein ; man könne sogar zugeben, daĂ in mancher Hinsicht etwas daran sein mögeâ (MoE 308)
â womit sie de facto dessen Funktion als willkommene Waffe im Ehekrieg gegen Leo wĂŒrdigt.
725 Vgl. dazu Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 194 ; Hamann : Hitlers Wien, S. 288 f.:
âIn Wien schrieb der in England geborene [âŠ] Houston Stewart Chamberlain sein Buch Die
Grundlagen des 19. Jahrhunderts. [âŠ] Damit wurde er zu einem wichtigen Propagator des Ras-
senantisemitismus. / Chamberlain war in den neunziger Jahren gut in das intellektuelle Le-
ben Wiens integriert. [âŠ] In Hitlers Wiener Zeit lebte Chamberlain, inzwischen mit Wagners
Tochter Eva verheiratet, meist in Bayreuth, wurde aber von der Wiener alldeutschen Presse
hĂ€ufig zitiert.â
726 In seinem Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit seziert Musil die eigenartigen âWege
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208