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581âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
berief.731 Die sich darin erschöpfende Literatur erregte bei Musil nicht nur
intellektuell und Ă€sthetisch Abscheu, sondern bedeutete fĂŒr ihn zugleich eine
existenzielle Herausforderung und Bedrohung. Schon Anfang der zwanziger
Jahre hatte er anlÀsslich der damals wachsenden Prominenz völkischer Litera-
tur unter Verweis auf âGerda und ihr[en] Kreisâ (Tb 2, 436) im Arbeitsheft 21
notiert :
FrĂŒher sagte der Mensch vom Familienblattroman : er gefĂ€llt mir ; heute sagt er : er ist
deutsch. / Von den deutschen Gemeinden der Tschechoslowakei werden in groĂen
Posten Sta[a]ckmannbĂŒcher gekauft.[732] / Sie mĂŒssen mehr völkisch schreiben, sagt
ein einfluĂreicher Freund Spunda. / Eine Empfehlung von Hohlbaum bedeutet
groĂen Absatz. / FrĂŒher war die Karrikatur [sic] des Geisteslebens das politische
Programm. Durch die Völkischen wird das Programm Leben. (Tb 1, 624)
Nur der zuletzt zitierte Satz spricht die terroristische Gefahr an, die sich hinter
der völkischen Ideologie verbirgt. Doch auch schon die anderen SÀtze ma-
chen deutlich, in welchem AusmaĂ faschistoide Leser und Autoren das li-
terarische Leben der Zwischenkriegszeit prÀgten. Insofern hat die kritische
Verkörperung des völkischen Diskurses in Musils romaneskem Figurenarsenal
eine distinktive Funktion gegenĂŒber jenen konkurrierenden literarĂ€sthetischen
Stellungnahmen, die der völkischen Literatur nahestanden.
DarĂŒber hinaus prĂ€sentiert sich Hans Sepps unausgegorener Jugendkult
gleichsam als Trivialisierung und Pervertierung des von Ulrich vertretenen es-
sayistischen Programms, das ja ebenfalls ein unvoreingenommenes, gleichsam
âjugendlichesâ WeltverhĂ€ltnis propagiert. In Hansens jugendbewegtem ideolo-
gischen Potpourri spielen ânamentlich ĂŒppige Vorstellungen von Recht, Pflicht
und schöpferischer Kraft der Jugend eine so groĂe Rolleâ, dass sie der ErzĂ€hler
âeingehenderâ erwĂ€hnen zu mĂŒssen glaubt :
Die Gegenwart kenne, hieà es, kein Recht der Jugend, denn bis zu seiner VolljÀh-
rigkeit sei der Mensch so gut wie rechtlos. Vater, Mutter, Vormund können ihn klei-
den, herbergen, nĂ€hren, wie sie wollten, zĂŒchtigen und nach Hans Seppens Ansicht
zugrunderichten, soweit sie nur eine ferne Paragraphengrenze nicht ĂŒberschritten,
die dem Kinde höchstens eine Art Tierschutz gewÀhrt. Es gehöre den Eltern wie
der Sklave dem Herrn und sei durch seine wirtschaftliche AbhÀngigkeit Eigentum,
731 Vgl. Charbon : Heimatliteratur, S. 19 f.
732 Gemeint sind hier die völkischen Publikationen der L. Staackmannâschen Verlagsbuchhand-
lung Leipzig.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208