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582 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Objekt des Kapitalismus. [âŠ] Das Christentum habe nur das Joch des Weibes ge-
mildert, nicht das der Tochter ; die Tochter vegetiere, denn sie werde dem Leben
mit Gewalt entfremdet [âŠ]. Das Kind sei schöpferisch, weil es Wachstum sei und
sich selbst schaffe. Es sei königlich, weil es der Welt seine Vorstellungen, GefĂŒhle
und Phantasien vorschreibe. Es wolle von der zufÀlligen fertigen Welt nichts wissen,
sondern baue seine eigene Welt der Ideale. Es habe seine eigene SexualitÀt. Die Er-
wachsenen begehen eine barbarische SĂŒnde, indem sie das Schöpfertum des Kindes
durch den Raub seiner Welt zerstören, unter herangebrachtem, totem Wissensstoff
ersticken und auf bestimmte, ihm fremde Ziele abrichten. Das Kind [âŠ] nehme,
wenn man es nicht durch Gewalt stört, nichts an, als was es wahrhaft in sich hi-
neinnimmt ; jeder Gegenstand, den es berĂŒhrt, lebe, das Kind sei Welt, Kosmos, es
sehe das Letzte, Absolute, wenn es das auch nicht ausdrĂŒcken kann : aber man töte
das Kind, indem man es Zwecke begreifen lehre und es an das gemeine Jedesma-
lige feĂle, das man lĂŒgnerischerweise das Wirkliche nennt ! â So Hans Sepp. (MoE
553 f.)
Insbesondere dessen abschlieĂende Bemerkung ĂŒber âdas gemeine Jedesma-
ligeâ, das man ohne tiefere Berechtigung âdas Wirklicheâ nenne, erinnert in
ihrer radikalen Ablehnung der Macht des Faktischen an Ulrichs âMöglich-
keitssinnâ, der sich einer allgemeinen Soziodizee der herrschenden RealitĂ€t
und dem âgeschehenden Seinesgleichenâ verweigert. Zugleich wird in ihr aber
auch jene âVerwirrungâ der âChristgermanenâ erkennbar, von der Musil in sei-
nen frĂŒhen Notizen spricht, wenn er deren âIdealismusâ als âwohl ausgebildete
Funktion mit falschen Inhaltenâ bezeichnet. Selbst fĂŒr diese âfalscheâ FĂŒllung
der richtigen Form durch Hans Sepp gibt der ErzÀhler eine einleuchtende
sozialpsychologische ErklÀrung, die freilich unter der Hand auch eine ideolo-
giekritische Relativierung impliziert :
Daà er so hartnÀckig an der Kampfstellung des Kindes festhielt, mochte seine Ursa-
che in frĂŒhen SelbstĂ€ndigkeitsbedĂŒrfnissen haben ; in der Hauptsache kam es aber
davon, daĂ die Sprache der Jugendbewegung, die damals in Schwang [sic] gekom-
men, die erste Sprache war, die seiner Seele zum Wort verhalf und, wie es eine rechte
Sprache tun muĂ, von einem Wort zum andern fĂŒhrte und in jedem mehr sagte, als
man eigentlich wuĂte. (MoE 554)
Zuletzt sei auf den negativ-anthropologischen Kern hingewiesen, der die kru-
den ideologischen Vorstellungen der âChristgermanenâ in gewisser, höchst pa-
radoxer Weise mit Ulrichs Bestrebungen verbindet :
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208