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586 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
scheinlich schon aus einer anderen SphÀre : der des Willens. Clarisse wird das, was
ihr zustöĂt, voraussichtlich niemals erklĂ€ren können, wohl aber wird sie es vielleicht
lösen können ; und sie nennt das schon ganz richtig âčerlösenâș, sie gebraucht instinktiv
das rechte Wort dafĂŒr.â (MoE 834)
Der prophetische Philosoph bedient sich hier recht heterogen zusammenge-
wĂŒrfelter VersatzstĂŒcke eines seinerzeit modischen VulgĂ€r-Nietzscheanismus,
die insbesondere in einer kruden Willens- und Intuitionsmetaphysik kulmi-
nieren, wodurch sich die Romanfigur ĂŒbrigens deutlich von Klagesâ Philoso-
phie â insbesondere von dessen Kritik an Nietzsches âWillen zur Machtâ als
lebensfeindlich â unterscheidet.741 Auch Meingasts Bemerkung, dass Clarisse
sich ganz zu Recht mit dem âErlösungs-Gedankenâ beschĂ€ftige, ist nicht son-
derlich originell, sondern lÀsst sich auf eine allgemeine Epochenerscheinung
zurĂŒckfĂŒhren, die als modischer Diskurs bewirkt, dass sogar der allen geistigen
HöhenflĂŒgen abholde General Stumm von Bordwehr intensiv âĂŒber das Un-
erlöste und das Erlösen nachdachte, zumal er auch in seiner halbzivilen TÀtig-
keit bei Diotima das Wort Erlösung seit einiger Zeit bis zur Unausstehlichkeit
zu hören bekamâ (MoE 518). Konkreter Auslöser fĂŒr Stumms Ăberlegungen
ist die damals topische Formel von den âunerlöste[n] Nationenâ fĂŒr âdie unter
Kakaniens Krone vereinigten Völkerâ (MoE 518) ; er findet das âWort Erlösenâ
(MoE 518) jedoch auch an anderer Stelle :
[W]enn Stumm sich fragte, wo er, auĂer bei Diotima und in der Politik, schon von
Erlösen habe reden hören, so war das in Kirchen und KaffeehÀusern geschehn, in
Kunstzeitschriften und in den BĂŒchern von Arnheim, die er mit Bewunderung gele-
sen hatte. Es wurde ihm auf diese Art deutlich, daĂ es nicht ein natĂŒrliches, einfaches
und menschliches Geschehen ist, was mit solchen Worten ausgedrĂŒckt wird, sondern
irgendeine abstrakte und allgemeine Verwicklung ; Erlösen und nach Erlösung Ban-
gen ist auf jede Weise anscheinend etwas, das nur einem Geist von einem anderen
Geist angetan werden kann. (MoE 519)
Wie Stumm treffend bemerkt, bezeichnet die auch von Meingast gehegte
Erlösungsvorstellung keineswegs das vom Propheten suggerierte ânatĂŒrliche,
einfache und menschliche Geschehenâ, sondern eben eine höchst âabstrakte
und allgemeine Verwicklungâ, die aber als ursprĂŒnglich und ganzheitlich und
deren Ahndung als intuitiv erscheinen soll. Die vom General zuletzt zitierte
741 Vgl. dazu ebd., S. 338, Anm. 364 ; Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 186 f.;
Schneider : Marginalien zur Meingast-Episode, S. 244 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208