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591âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
âauf der Ebene der Produktionsschemata [âŠ] und nicht auf der des Produkts.
Das Hervorstechende dieser Topiken, die den ĂuĂerungen einer ganzen Epo-
che deren objektive Einheit vorgeben, beruht in ihrer Unbestimmtheit, die
sie den grundlegenden GegensÀtzen des mythischen Systems Àhnlich wer-
den lassenâ751, wie sich beispielhaft anhand der von Oswald Spengler theo-
retisierten und von Norbert Elias752 historisierten typologischen Dichotomie
Kultur/Zivilisation753 bzw. an deren begrifflicher UnschÀrfe veranschaulichen
lÀsst (vgl. GW 8, 1057 ; Tb 1, 406). Insofern ist es eher von anekdotischer
Bedeutung, ob und wie Musil fĂŒr die Komposition der AusfĂŒhrungen seiner
Meingast-Figur tatsÀchlich verdeckte Klages-Zitate benutzte.754 Entscheidend
scheint vielmehr die Tatsache, dass er âdie Karikatur von Klages in der Figur
des Dr. Meingast vor allem als Karikatur eines geistigen Wegbereiters des Na-
tionalsozialismus angelegt hat, der Klages in der Tat warâ755. Auf diese Weise
hat die erzÀhlerische Konstruktion der Meingast-Figur nicht nur eine kontras-
tive Funktion innerhalb des Romankosmos, indem sie in Abhebung von Ul-
rich die âauf eine wesentlich negative Weiseâ definierte, nĂ€mlich antimodern,
antiliberal und antizivilisatorisch gerichtete ââPhilosophieâ der konservativen
RevolutionĂ€reâ756 vertritt ; sie ist zudem von groĂem zeitdiagnostischen Wert,
verdeutlicht sie doch im Medium des Romans eine eminente Gefahr, die nicht
allein den Seelenfrieden Clarisses und den Ehefrieden zwischen ihr und Wal-
751 Ebd., S. 32 ; mehr dazu ebd., S. 37 f.: âDa keiner der Ideologen die Gesamtheit aller verfĂŒgbaren
Schemata aufbietet, eignet diesen in den verschiedenen Systemen, in die sie sich einfĂŒgen, auch
niemals die gleiche Funktion und Gewichtigkeit. So kann jeder, von der je besonderen Verbin-
dung gemeinsamer Schemata aus, die er zur Anwendung bringt, seinen Diskurs erzeugen, der,
obwohl er doch nur die abgewandelte Form aller anderen darstellt, auf diese nicht reduzierbar
ist. Die Ideologie verdankt einen Teil ihrer StÀrke dem Umstand, daà sie sich nur in und kraft
der Orchestrierung der generativen Habitusformen verwirklicht. Diese Systeme singulÀrer,
aber gleichwohl objektiv aufeinander abgestimmter Dispositionen gewÀhrleisten die Einheit
in der und durch die kaleidoskopische Mannigfaltigkeit ihrer Produkte, die als bloĂe Varianten
einen Zirkel bilden, dessen Zentrum ĂŒberall und nirgends ist.â
752 Vgl. Elias : Ăber den ProzeĂ der Zivilisation, S. 89â153 ; ders.: Studien ĂŒber die Deutschen,
S. 161â222.
753 Vgl. dazu mit Blick auf Musils Differenzierungsversuch Wefelmeyer : Kultur und Literatur, bes.
S. 202â206.
754 Dazu Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 184 : âMeingast wird nicht aus âZitatenâ
der Schriften Klagesâ zusammengesetzt, sondern aus Notizen ĂŒber den Zeitgeist, der aus der
âKunst der Erhebung ĂŒber das Wissenâ (MoE 826) eine fatale Kombination von âHalbwissenâ
(Tb 1, 968) und Demagogie hergestellt hat.â Vgl. dagegen Schneider : Marginalien zur Mein-
gast-Episode, S. 244 f. u. 251.
755 Ebd., S. 244 ; mehr dazu in Schneider : Ideologische GrabenkÀmpfe.
756 Bourdieu : Die politische Ontologie Martin Heideggers, S. 35.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208