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599âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Denkschablonen nicht aufbricht, sondern im Gegenteil gerade zementiert.770
âDenken, das aufgrund der eigenen Negation Leben sein will, gerinnt zur
Weltanschauung.â771
Musils Protagonist Ulrich (bzw. seine VorlÀuferfigur) erweist sich auch
hier als Verteidiger des ergebnisoffenen Möglichkeitsdenkens und wird als
solcher vor der Folie anderer, âglĂ€ubigerâ Romanfiguren profiliert.772 Wohin
demgegenĂŒber der in Walter und Clarisse exemplifizierte blinde und kritik-
lose Glaube fĂŒhren kann, wenn er sich mit dem in Meingast verkörperten
âMiĂverhĂ€ltnis zwischen GefĂŒhl und Verstandâ (Tb 1, 984) vereinigt, hat
Musil im Arbeitsheft 34 skizziert, indem er auf einen bedenklichen Sach-
verhalt hinweist : âLange vor den Diktatoren hat unsere Zeit die geistige Dik-
tatorenverehrung hervorgebracht. Siehe George. Dann auch Kraus[773] und
Freud[774], Adler und Jung. Nimm noch Klages und Heidegger hinzu. Das
Gemeinsame ist wohl ein BedĂŒrfnis nach Herrschaft und FĂŒhrerschaft, nach
dem Wesen des Heilands.â (Tb 1, 896) Als âgemeinsame ZĂŒge der FĂŒhrerâ
nennt Musil in diesem Zusammenhang jene â[f]este[n] Werte, bei denen sich
trotzdem Verschiedenes denken lĂ€Ătâ (Tb 1, 896). Das bloĂe Angebot, âVer-
schiedenesâ zu âdenkenâ, wird ihm kein Unbehagen ausgelöst haben â wohl
aber die mit der AmbiguitĂ€t verknĂŒpfte Suggestion âfester Werteâ, einfacher,
770 Vgl. Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 185 : âDaĂ ihm diese Art von Philosophie
widerstrebt, gibt er mit vielfÀltigen Argumenten zu, deren wichtigstes die Vermischung von
Kunst und Wissenschaft meint, die beide schwĂ€cht, statt sie â wie das Vorbild der âKĂŒnstler-
Philosophenâ Nietzsches zeigt â aneinander wachsen zu lassen. Ăsthetische ProduktivitĂ€t wird
nicht als schöpferischer Akt verstanden, der im Prinzip jeder bewuĂten Weltauslegung zugrun-
deliegt, sondern der Kunstcharakter soll verschwommenen, halbdurchdachten Gedanken zur
Legitimation dienenâ ; vgl. dazu Musils EintrĂ€ge in seine Arbeitshefte 30 u. 32 (Tb 1, 787 u.
984).
771 Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 187.
772 Vgl. dazu auch folgende frĂŒhe Entwurfsnotizen : âAnders greift gegen Klages, den er argumen-
tativ nicht aus dem Sattel heben kann, zur Unterjochung von der Phantasie her. [âŠ] Walther
hĂ€lt in dieser Frage mehr zu Klages, weil er in diesem wieder einen VerbĂŒndeten gegen Anders
sieht.â Es handelt sich bei der Auseinandersetzung in Sachen Klages somit auch um einen
ânaiven, ganz natĂŒrlichen Kampf um Geltungâ (M VII/6/287). FĂŒr Walter ist Klages (bzw.
Meingast) sogar ein âwirklicher Freundâ, der sich mit ihm âbeschĂ€ftigtâ, ânamentlichâ mit sei-
ner âAblehnung der ModernitĂ€tâ (M VII/6/362).
773 Zur Wirkung von Kraus als âErlöserfi
gurâ vgl. auch die diesbezĂŒglichen Bemerkungen im Ar-
beitsheft 21 (Tb 1, 634).
774 Mit âgeistiger Diktatorenverehrungâ meint Musil bei Freud und anderen wohl weniger einen
ideologischen Gehalt der Theorie, sondern die quasi religiöse Rezeption durch eine kritiklos
ergebene AnhÀngerschaft.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208