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609âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
rĂ€umt Ulrich sogar ausdrĂŒcklich ein, dass es in gewisser Hinsicht gar nicht
stimme, was er behauptet (MoE 1456 f.), und lÀsst Wahrheit somit ironisch
als vielschichtige und mehrdimensionale EntitÀt erscheinen. Solche Augen-
blicke des reflektierenden Innehaltens ergreift SchmeiĂer indes als âGele-
genheit zu einer frohlockenden Unterbrechung mit den Worten : âMenschen
wie Sie kommen nicht zum Handeln, weil sie die Wahrheit nicht wollen ! Der
bĂŒrgerliche sogenannte Geist ist in seiner GĂ€nze nur eine Verzögerung und
Ausrede !ââ (MoE 1457) âWahrheitâ gibt es fĂŒr SchmeiĂer nur im Singular. Mit
seinem Hinweis auf die typisch intellektuelle Handlungshemmung Ulrichs â
einem Komplement der scholĂ© auf Seiten des Habitus â benennt er allerdings
tatsĂ€chlich ein zentrales Problem des Musilâschen Protagonisten, zu dessen
Lösung dieser selbst wenig vorzubringen hat, wie noch genauer zu erörtern
sein wird.802 Der sich hier offenbarende Unterschied zwischen einer skep-
tisch-essayistischen und einer optimistisch-zukunftsgewissen Grundhaltung
kommt in folgendem abschlieĂenden Dialog noch deutlicher zum Ausdruck,
in dem Ulrich die Behauptung einer bĂŒrgerlichen Wahrheitsverweigerung auf-
nimmt und weiterdenkt â weshalb er in GĂ€nze zitiert sei :
âWarum wollen Menschen wie ich aber nicht ?â fragte Ulrich. âSie könnten doch wol-
len. Reichtum, zum Beispiel, ist ja nichts, was sie wirklich begehren. Ich kenne zwar
kaum einen wohlhabenden Mann, der nicht davon eine kleine SchwĂ€che trĂŒge, mich
inbegriffen, aber ich kenne auch keinen, der das Geld um seiner selbst willen liebte,
auĂer GeizhĂ€lse, und Geiz ist eine Störung des persönlichen Verhaltens, die es auch
in der Liebe gibt, in der Macht und in der Ehre : die krankhafte Natur des Geizes be-
weist geradezu, daĂ Geben seliger ist als Nehmen. Glauben Sie ĂŒbrigens, daĂ Geben
seliger ist denn Nehmen ⊠?â fragte er.
âDiese Frage können Sie in einem schöngeistigen Salon aufwerfen !â gab SchmeiĂer
zur Antwort.
âUnd ich befĂŒrchteâ behauptete Ulrich : âalle Ihre Anstrengungen werden zwecklos
bleiben, solange Sie nicht wissen, ob Geben oder Nehmen seliger ist oder wie sie sich
ergĂ€nzen !â
SchmeiĂer höhnte : âSie beabsichtigen wohl die Menschheit in GĂŒte zu ĂŒberre-
den ? Ăbrigens wird das rechte VerhĂ€ltnis von Geben und Nehmen im Sozialen Staat
eine SelbstverstĂ€ndlichkeit sein !â
âDann behaupte ich,â ergĂ€nzte Ulrich lĂ€chelnd seinen Satz âdaĂ Sie eben an etwas
anderem scheitern werden, zum Beispiel daran, daĂ wir imstande sind, jemand Hund
zu schimpfen, auch wenn wir unseren Hund mehr lieben als unsere Mitmenschen ! ?â
802 Vgl. die AusfĂŒhrungen zu Ulrich und SchmeiĂer in Kap. II.3.2.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208