Seite - 615 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 615 -
Text der Seite - 615 -
615âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
schon diesmal der Erfolg rechtgeben wird.â (GW 9, 1561) Dieser Aussage zu-
folge macht es sich der Autor zu leicht, wenn er mit groĂer Geste nach Tiefe
und Bedeutungsschwere trachtet. BerĂŒcksichtigt man dabei, dass der von ihm
selbst ersehnte literarische Erfolg fĂŒr Musil wohl bereits seit der verhaltenen
Aufnahme seiner Vereinigungen (1911) eine höchst zweifelhafte Auszeichnung
fĂŒr einen anspruchsvollen Dichter war, dann erhĂ€lt die scheinbar konziliante
Schlusswendung einen doppelt schalen Beigeschmack823, der schon auf die
erzÀhlerische Gestaltung der Feuermaul-Figur vorausweist. Dieselbe wider-
sprĂŒchliche Tendenz â ârespektvollâ, doch âmit Vorbehalten gegen Werfels
Dramaturgie der OberflĂ€chlichkeitenâ824 â zeichnet sich auch in Musils zweiter
Rezension einer Werfel-Premiere vom 26. April 1922 ab : In der Dramaturgie
des diesmal im Burgtheater inszenierten Dramas Spiegelmensch gehe dessen Au-
tor, âkurz gesagt, von dem Grundsatz aus, daĂ man dem Theater Konzessionen
machen mĂŒsse, Geistiges ihm aufzubĂŒrden sei Muckertum (Goethe, Hebbel,
Claudel ?) und das einzige, was man von ihm fordern dĂŒrfe, sei die sĂŒĂe Torheit
einer Laterna magicaâ (GW 9, 1573). Zeit seines Lebens hat Musil gegen sol-
che Ansichten angekÀmpft, die er als illegitimes ZugestÀndnis der Kunst an den
Kommerz, die âMerkantilisierungâ verdĂ€chtigte825, ja hat mit seinem eigenen,
vom Burgtheater gut anderthalb Jahre zuvor abgelehnten, höchst komplexen
Schauspiel Die SchwĂ€rmer (1921) gerade danach gestrebt, âendlich einmal Geist
in die Theaterkonflikte zu bringenâ826. Werfels auf dramaturgische Effekte ab-
zielender âTheorieâ hĂ€lt er deshalb âeine richtige und eine falsche Wurzelâ vor,
âetwas von echtem Kunsteinfall und etwas von einem ĂberlĂ€ufertum, das der
Dichtung in den RĂŒcken fĂ€lltâ, was sich nicht zuletzt am Spiegelmensch selber
veranschaulichen lasse, denn âder ernsten Kunst ein Schnippchen zu schlagen,
ist genau so ernste Kunst, wie sie zu schaffenâ (GW 9, 1573).
Die weitere Entwicklung des VerhÀltnisses zwischen den beiden Schrift-
stellern hat Corino dahingehend resĂŒmiert, dass beim kritischen Rezensenten
nach den beiden Besprechungen âeine Art Latenzphase in Sachen Werfelâ
eingetreten sei, âwĂ€hrend derer der Fall mĂ€chtig in Musil arbeitete, desto
mĂ€chtiger, je erfolgreicher jener wurdeâ.827 Das offenbar kontinuierlich wach-
sende Ărgernis, das fĂŒr Musil vom nunmehr ebenfalls in Wien wohnenden
Schriftstellerkonkurrenten ausging, trat zuletzt Anfang 1930 in einem ins Ar-
823 Vgl. dazu Strutz : Politik und Literatur, S. 91.
824 So Corino : Musil [2003], S. 913, in deutlicher Anlehnung an GW 9, 1573.
825 Vgl. etwa die Rede Der Dichter in dieser Zeit (GW 8, 1253) ; dazu Strutz : Politik und Literatur,
S. 94.
826 Vgl. Musils Brief an Erhard Buschbeck, 7.8.1920 (Br 1, 201â203, Zit. 202).
827 Corino : Musil [2003], S. 913.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208