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619âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
den Namen Werfels (neben Friedrich Austerlitz und Karl Otten837) im Zu-
sammenhang einer âKriegsgegnergruppeâ, deren Mitglieder sich wĂ€hrend
des Kriegs als âMenschheitsfreundeâ profilieren ; es geht ihm dabei vor allem
um die âgeistige Gruppenbildung, die sich im Hinterland vollzieht.â (Tb 1,
586) Wie er an anderer Stelle notiert, will er âMenschen mit Denksystemenâ
zeigen â âund dass diese Systeme einander widersprechen.â (M I/6/14 ; Tb
2, 1068) Auf die ideologiekritische Funktion der den kanonischen Roman-
text abschlieĂenden âSitzungs-Kapitelâ wird noch zurĂŒckzukommen sein.838
An dieser Stelle sei nur erwĂ€hnt, dass Musil âWeltanschauungsliteratur [âŠ]
immer mit Misstrauen betrachtet. Werfel erscheint denn auch in den spÀten
Notizen stereotyp als Beispiel eines unechten und unverdient erfolgreichen
Literatentumsâ.839 Aus Musils Perspektive Ă€hnelt er darin dem Wiener Zeit-
genossen Anton Wildgans, dessen Reputation als âErfolgsautorâ ebenfalls eine
Inspirationsquelle fĂŒr die Feuermaul-Episode abgab.840 Kurz : âIn Feuermaul
verdichten sich Musils Abneigungen gegen einen seiner Meinung nach auf
völlig falschen Werten aufbauenden Kulturbetrieb.â841 In diesem polemischen
Zusammenhang, der die Gefahr einer zu einseitigen erzÀhlerischen Stellung-
und Parteinahme in sich birgt, ist es darstellerisch bezeichnend, âdaĂ Feuer-
maul keine Figur der ErzĂ€hlung istâ, wie Musil selbst auf einem Schmierblatt
zu den Sitzungs-Kapiteln hervorhebt (M II/9/61). Gemeint ist damit â so
Fanta â, âdass der junge Dichter wie auch seine Gönnerin [Drangsal, N. C. W.]
weder direkt zu Wort kommen noch vom ErzÀhler vorgestellt oder beschrie-
ben werden.â Wie Fanta weiter ausfĂŒhrt, macht Musil aus der Not, zusĂ€tzli-
ches Personal in den bereits âĂŒberquellendenâ Roman einzufĂŒhren, âeine Tu-
gend, indem er eine Perspektive indirekten ErzÀhlens entfaltet. Nichts wird
ĂŒber das neue Personal als vom ErzĂ€hler herausgefundene authentische Wahr-
heit mitgeteilt [âŠ], sondern in Nachahmung des Verfahrens medialer Ver-
mittlung wird ausschlieĂlich âveröffentlichte Meinungâ kolportiert.â842 Indem
er seinen ĂŒber weite Strecken vorherrschenden auktorialen ErzĂ€hlstil hier ent-
837 Dazu der Kommentar Frisés (Tb 2, 392 f., Anm. 109).
838 Vgl. die Beobachtungen zu Hans Sepp und Feuermaul in Kap. II.3.2.
839 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 361 ; vgl. dort insbesondere auch die
Angaben in Anm. 434.
840 Vgl. Strutz : Politik und Literatur, S. 15 f., der die Bedeutung des Burgtheaterdirektors Wildgans
fĂŒr Musil diskutiert, dem er als âein Beispiel fĂŒr die Sackgasse der Literaturâ gedient habe (vgl.
Tb 1, 760 ; M VII/14/50). Weitere erhellende Einzelheiten der Entstehungsgeschichte rekon-
struiert Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 237 u. 419â423,
auf der Basis des Nachlasses.
841 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 362.
842 Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 421.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208