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623âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Bezeichnend fĂŒr die habituelle Ausgestaltung der Figur ist auch der Um-
stand, dass der junge Feuermaul gegen den Willen des Vaters854 sein Jura-
Studium abgebrochen hat (vgl. MoE 1018), womit Musil durchblicken lÀsst,
Feuermaul sei kein Freund harter und bestÀndiger Arbeit. Stattdessen entwi-
ckelt der renitente HĂ€ndler- und Fabrikantensohn den âEhrgeiz, ein Dichter
zu seinâ, was Ulrich neben dem Verweis auf den innerfamiliĂ€ren Generatio-
nenkonflikt als sozialer Triebfeder sarkastisch auch darauf zurĂŒckfĂŒhrt, dass
Feuermaul in B. â[h]inter dem Theaterâ geboren worden sei (MoE 1443, nach
M I/8/3). Allerdings hat der Sohn vom Vater die beneidenswerte FĂ€higkeit
geerbt, sein eigenes Fortkommen geschickt zu befördern : So lÀsst er sich von
der bekannten SalonniĂšre Melanie Drangsal protegieren (vgl. MoE 931 f.), die
ihrerseits auf die freundliche UnterstĂŒtzung durch die Baronin Wayden zĂ€hlen
kann, was fĂŒr seine weitere Laufbahn Ă€uĂerst vorteilhaft ist (vgl. MoE 1002).
Insgesamt bleiben die erzÀhlerischen Informationen zum Habitus des jungen
Dichters aber vergleichsweise punktuell, was seiner eher episodischen Funk-
tion im romanesken HandlungsgefĂŒge entspricht, nicht aber seiner durchaus
wichtigen Rolle fĂŒr die kultur- und ideologiegeschichtliche Diagnostik, auf die
noch zurĂŒckzukommen sein wird.855 Dass es Musil kaum um die singulĂ€re
IndividualitÀt Feuermauls (alias Werfels856) zu tun ist, zeigt sich auch darin,
dass dessen öffentliches Auftreten bildlich extrem kondensiert, ja stilisiert er-
scheint :
Ulrich blickte auf, und durch eine LĂŒcke in dem geselligen Treiben, eine Art op-
tischen Kanals, dem vielleicht auch schon Diotimas Auge gefolgt war, ehe sie etwas
unvermittelt ihren Platz verlieĂ, gewahrte er im ĂŒbernĂ€chsten Zimmer Paul Arnheim
mit Feuermaul im GesprĂ€ch [âŠ]. Arnheim hielt die Hand mit der Zigarre erhoben,
854 An diesem Beispiel veranschaulicht Musil zudem den Generationenkonfl
ikt im Hause Feuer-
maul : ââWarum hat er keine Lust zu lernen gehabt ?â fragte Graf Leinsdorf, der an diesem Tag
sehr grĂŒndlich war. / âDu lieber Himmel,â meinte Ulrich achselzuckend âwahrscheinlich : âčVĂ€ter
und Söhneâș. Wenn der Vater arm ist, lieben die Söhne das Geld ; wenn der Papa Geld hat,
lieben die Söhne wieder alle Menschen. Haben Erlaucht noch nichts von dem Problem des
Sohnes in unserer Zeit gehört ?ââ (MoE 1018 f.) Vgl. dazu ein nachgelassenes Schmierblatt, das
Ulrich im selben GesprĂ€ch mit Leinsdorf zeigt und ihn noch expliziter erlĂ€utern lĂ€sst : â[W]enn
die VÀter scharfe Kaufleute sind, kommt in die Söhne ein Franziskanischer Zug. Alle Menschen
lieben, heiĂt, einen Papa haben, der das Geld liebt.â (M II/9/73) Zu den HintergrĂŒnden und
Kontexten vgl. Strutz : Politik und Literatur, S. 83â87.
855 Vgl. dazu die einschlÀgigen Passagen im Kap. II.3.2 sowie im Kap. III.1.1.
856 Obgleich in der im Folgenden wiedergegebenen Passage offenbar â[m]aliziöse Momentaufnah-
men des leidenschaftlichen Rauchers Werfelâ verarbeitet werden, wie Corino : Musil [2003],
S. 915, vermutet.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208