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625âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
konstruierten kulturgeschichtlichen Lapsus der bildungsbeflissenen MĂ€zenin
Drangsal tut der Gehalt der Feuermaulâschen Lehren ein Ăbriges, den bereits
vom Redegestus vermittelten Eindruck zu bestÀtigen. So legt der junge Dich-
ter mit seiner lebensphilosophischen Sentenz âman muĂ dem Leben glau-
ben !â einen prononcierten, seinerzeit modischen Antiintellektualismus an den
Tag. Stumm kennzeichnet diesen zutreffend, wenn er darauf hinweist, man
habe den Pazifisten âeigentlich nur eingeladenâ, â[w]eil er ein Exponent des
Zeitgeistes ist, und weil wir ja ohnehin auch die entgegengesetzten Exponen-
ten haben einladen mĂŒssenâ (MoE 1031).
Im Unterschied zu seinem geschĂ€ftstĂŒchtig-rationellen Vater ist der junge
Feuermaul âein anerkannter GefĂŒhlsmenschâ (MoE 1032), was bestens dazu
passt, dass er nicht das ökonomische, sondern eben das kulturelle Feld be-
stellt. Aufgrund seines geschickten öffentlichen Auftretens und eines unleug-
baren dichterischen Talents fÀhrt er dort bemerkenswerte Erfolge ein, die sich
mit den vom Vater im geschÀftlichen Bereich erzielten durchaus messen kön-
nen. Zumindest die âKritiker im Feuilletonâ und die anderen âSachverstĂ€ndi-
genâ lassen verlautbaren, âdaĂ er ein groĂer Dichterâ, ja âdaĂ er ein Genie sein
sollâ (MoE 1001), was sich allerdings noch nicht jenseits des Literaturbetriebs
herumgesprochen hat.859 Die kommentierende ErzÀhlstimme folgert aus
der noch eingeschrÀnkten Aufmerksamkeit, die der junge Dichter bisher auf
sich zu ziehen vermag : âFriedel Feuermaul war [âŠ] kein elender Schmeich-
ler, [âŠ] das war er nie, sondern hatte nur zeitgemĂ€Ăe EinfĂ€lle am rechten
Platzâ (MoE 1014). Dass diese Worte, deren Ironie auf der impliziten Oppo-
sition zwischen rechter âZeitgemĂ€Ăheitâ und der seit Nietzsche zumindest
im intellektuellen Diskurs nobilitierten âUnzeitgemĂ€Ăheitâ beruht, nicht nur
ironisch zu verstehen sind, geht aus Ulrichs Anerkennung hervor, die er der
Feuermaulâschen Dichtung zollt ; hinsichtlich ihrer QualitĂ€t ergĂ€nzt er nĂ€m-
lich Stumms despektierliche ĂuĂerung, es handle sich â[h]altâ um âso Verseâ,
durch die auffallende Korrektur : âSogar gute. Und allerhand TheaterstĂŒcke.â
(MoE 932)860 An anderer Stelle freilich vertritt Ulrich die Ansicht, Feuermaul
859 Vgl. dazu die EinschrÀnkung Meseritschers, des Gesellschaftsreporters und Experten in Sachen
allgemeiner Anerkennung : âDie Kritiker im Feuilleton sagen das ! Was zĂ€hlt das schon [âŠ].
Die SachverstÀndigen sagen das. Was sind die SachverstÀndigen ? Manche sagen das Gegenteil.
Und man hat Beispiele, daà SachverstÀndige heute so und morgen anders sagen. Kommt es
ĂŒberhaupt auf sie an ? Was wirklich ein Ruhm ist, muĂ schon bei den UnverstĂ€ndigen angelangt
sein, dann ist er erst verlĂ€Ălich ! Wenn ich Ihnen sagen soll, was ich denke : Von einem bedeu-
tenden Mann darf man nicht wissen, was er macht, auĂer daĂ er ankommt und abreist !â (MoE
1001)
860 Vgl. demgegenĂŒber die defensive Antwort des Generals, der sich angesichts fehlender autori-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208