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627âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
An anderer Stelle formuliert Stumm reichlich zirkulĂ€r, âdaĂ die Drangsal so
eine Art Pazifistin ist, wahrscheinlich, weil der Feuermaul, den sie lanciert,
Gedichte darĂŒber macht, daĂ der Mensch gut ist. Daran glauben jetzt viele.â
(MoE 976) Hinsichtlich der von seiner Gönnerin tatkrĂ€ftig unterstĂŒtzten pa-
zifistischen AktivitĂ€ten Feuermauls gibt Musils ErzĂ€hler schon recht frĂŒh zu
Protokoll, der junge Dichter sei durch seinen âGeistâ bzw. durch dessen fulmi-
nante Wirkung immerhin in der Lage, eigene, dem pazifistischen Gedanken
gewidmete Abende der Parallelaktion âins Leben zu rufenâ (MoE 997). Mehr
noch :
Feuermaul [âŠ] wurde von dem Einfall besessen, man mĂŒsse etwas zu Liebe und
Frieden Ratendes dem Kriegsminister selbst sagen. Warum gerade dem Kriegsmini-
ster und welche Rolle diesem zugedacht war, blieben dabei wieder im Dunkel, aber
der Einfall selbst war so blendend erfunden und dramatisch, daĂ er einer anderen
UnterstĂŒtzung wirklich nicht bedurfte. (MoE 1032)
Nicht die Botschaft steht im Fokus dieser Kommunikation, sondern der Bote.
Der genaue Gedankengang Feuermauls wird von der aufmerksamkeitshei-
schenden Wirkung seines Resultats so sehr in den Schatten gestellt, dass nie-
mand mehr auf dessen ausbleibende argumentative BegrĂŒndung achtet. Trotz
oder gerade wegen seiner unbestreitbaren Meisterschaft im öffentlichkeits-
wirksamen Auftreten erfÀhrt der junge Stern am Literaturhimmel aber ge-
wisse WiderstÀnde von ungeahnter Seite, wie Stumm von Bordwehr seinem
Freund Ulrich berichtet :
Der Arnheim hat nÀmlich behauptet : die Lehre, der Mensch ist gut, sei nur ein
Richtbild. Der Feuermaul dagegen hat geantwortet : was Richtbilder seien, wisse er
nicht, aber der Mensch sei gut, und das sei eine ewige Wahrheit ! Darauf hat der
Leinsdorf gesagt : âDas ist schon ganz richtig. Böse Menschen gibt es eigentlich ĂŒber-
haupt nicht, denn das Böse kann niemand wollen ; das sind nur Irregeleitete. Die
Leute sind heute eben nervös, weil in Zeiten wie den heutigen so viele Zweifler ent-
stehn, die an nichts Festes glauben.â (MoE 1004 f.)
rurgengattin, und Alma Mahler ĂŒbereinandergeblendet hatte. WĂ€hrend sich Musil in seinen
Kritiken des Werfelschen Theaters jeden Arguments ad hominem enthalten hatte, zog er nun
gegen Frau Melanie Drangsal und ihren Liebling Feuermaul ungeniert vom Leder.â (Fraglich
bleibt hier nur, ob âdas ganze vornehme Wienâ von Musils Roman ĂŒberhaupt Kenntnis genom-
men hat.)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208