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636 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
geschlagen worden [âŠ] ; ein Werdegang einer Revolution, der ein wenig zur Vorsicht
mahnt. (GW 8, 1197)
Es zeugt von Musils soziologischem GespĂŒr, dass er die mentale, habi tus-
prÀgende Bedeutung des Krieges (bzw. der Kriegsfolgen) und der Mode
â also materialisierter sozialer bzw. kultureller PhĂ€nomene â fĂŒr die Emanzi-
pation der Frau entschieden höher ansetzt als diejenige bloĂer Diskursereig-
nisse. Die Provokation, die in einer solchen (inzwischen gÀngigen881) Be-
wertung fĂŒr die damalige Frauenbewegung lag, wird von ihm sogar noch
forciert :
Die Frau hat sich auch nicht in der Weise freigemacht, daĂ sie dem Manne TĂ€tig-
keitsgebiete abnahm, wie es frĂŒher den Anschein hatte, sondern ihre entscheidenden
Taten waren, daĂ sie sich seiner VergnĂŒgungen bemĂ€chtigte und daĂ sie sich ausklei-
dete. Erst in dieser Phase ist die neue Frau aus dem Ausnahmezustand der Literatur
und aus der Separation der Lebensreformerei vor die Augen des Volks getreten und
rasch zur Wirklichkeit geworden [âŠ]. (GW 8, 1197)
Um diese auf den ersten Blick vielleicht unvermittelt erscheinende Argu-
mentation praxeologisch zu motivieren, eignet sich der Rekurs auf die
psychologische Adaptation von Alexandre KojĂšves Deutung (1947) der
Hegelâschen PhĂ€nomenologie des Geistes und der darin postulierten kulturellen
Formung des Begehrens, wie sie etwa Jacques Lacan vorgenommen hat882 ;
KojĂšve zufolge
ist die Gesellschaft nur als ein Ganzes von sich gegenseitig als Begierde begehrenden
Begierden menschlich. Die menschliche oder besser die anthropogene Begierde, die
das freie, historische und seiner IndividualitÀt, seiner Freiheit, seiner Geschichte und
Geschicklichkeit bewuĂte Individuum konstituiert, unterscheidet sich also von der
881 Vgl. Frevert : Frauen-Geschichte, S. 146â163 : âDer Erste Weltkrieg â Vater der Frauenemanzi-
pation ?â Auch Bovenschen : Krieg und Schneiderkunst, S. 14â16, betont, âwie tief der Schock
saĂ, den die neue Ă€sthetische Erscheinungsform der Frauen auslöste. [âŠ] Der sinnfĂ€llige Wan-
del in der Erscheinung des Weiblichen sprengte in den Augen der meisten Autoren die Di-
mension einer reinen Modelaune, schien er doch in einem dunklen Zusammenhang mit dem
zweiten Element der Beunruhigung zu stehen : mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Un-
ter seinen âKataklysmenâ (Richard Huelsenbeck), in seinen Materialschlachten schien auch das
traditionelle VerhĂ€ltnis der Geschlechter zerborsten.â
882 Zur Adaptation der KojĂšveâschen Hegel-Deutung durch Jacques Lacan, die in der Folge auch
den französischen Poststrukturalismus geprÀgt hat, vgl. Bowie : Lacan, S. 78 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208