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638 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Der historische Weg zu einer Befreiung der Frau fĂŒhrte demzufolge in dialekti-
scher Weise ĂŒber den Mann â eine auch von Musil geteilte Deutung, die wohl
insbesondere hinsichtlich der von ihm diagnostizierten ausschlaggebenden
Etappen nicht auf ungeteilte Zustimmung zÀhlen konnte und kann, wenngleich
sie immerhin der mittlerweile gÀngigen Vorstellung einer Interdependenz der
unterschiedlichen Geschlechterkonzeptionen entspricht.887 DarĂŒber hinaus
beruht sie wiederum auf dem Primat kultureller und gesellschaftlicher Praxis
gegenĂŒber bloĂen Diskursen, der es auch hinsichtlich der erzĂ€hlerischen Frau-
endarstellung Musils geboten erscheinen lÀsst, seine literarischen Figuren nicht
bloĂ als blutleere Stellvertreter bestimmter Ideologeme und anderer gedankli-
cher Gehalte zu konzeptualisieren. Seine provokante Deutung der historischen
HintergrĂŒnde der Frauenemanzipation hindert Musil im Ăbrigen nicht, âden
Zustand, wie er augenblicklich istâ, folgendermaĂen zu beschreiben :
Die Frau ist es mĂŒde geworden, das Ideal des Mannes zu sein, der zur Idealisie-
rung nicht mehr die rechte Kraft hat, und hat es ĂŒbernommen, sich als ihr eigenes
Wunschbild auszudenken. Die SchwĂŒle Ă€lterer MĂ€nner kommt ihr selbst komisch
vor, und darin liegt eine groĂe Reinigung der AtmosphĂ€re. Sie will ĂŒberhaupt kein
Ideal mehr sein, sondern Ideale machen, zu ihrer Bildung beitragen, wie die MĂ€nner
es tun ; wenn auch vorlÀufig noch ohne besonderen Erfolg. (GW 8, 1198)
Der zuletzt erwĂ€hnte, ânochâ geringe Erfolg bezeichnet keine HĂ€me des
mĂ€nn lichen Beobachters, dem die VerĂ€nderung der âunhaltbare[n] recht-
li che[n] Stellung der Frauâ (GW 8, 1197) durchaus ein Anliegen ist888, son-
887 So weist etwa Scott : Gender, S. 33 f., darauf hin, âdaĂ Informationen ĂŒber Frauen notwen-
digerweise auch Informationen ĂŒber MĂ€nner sind, daĂ die einen die Untersuchung der an-
deren implizierenâ, weil âdie Welt der Frauen ein Teil der MĂ€nnerwelt ist, in ihr und durch
sie geschaffenâ. Die neuere Gender-Forschung lehnt deshalb in thematischer und methodi-
scher Abgrenzung vom Ă€lteren Feminismus âdie interpretative Brauchbarkeit der These von
gesonderten SphÀren ab und hÀlt die Forderung nach einem isolierten Studium der weiblichen
Geschichte fĂŒr die UnterstĂŒtzung der Fiktion, daĂ die Erfahrung des einen Geschlechts wenig
oder gar nichts mit der des anderen zu tun hatâ.
888 Vgl. dagegen Schwartz : Musils Frauenbild, S. 321, die in einer frĂŒher angestellten Betrachtung
Musils aus dem Essay Penthesileiade (1912) âeinen gegen die politische Frauenemanzipation
gerichteten Standpunktâ konstatiert, der âdieser nur eine Wichtigkeit zweiten Rangesâ zuspre-
che. TatsĂ€chlich wird in Penthesileiade âdie ausschlieĂliche Gravitation gröbster BedĂŒrfnisse, wie
Verlangen nach dem Recht auf geistige Berufsarbeit und politischen Drangâ, abgewertet gegen-
ĂŒber dem, âwas auch die Frauenbewegung leisten könnte : BedĂŒrfnisse hinwegfĂŒhren, hinĂŒber-
fĂŒhren, noch nicht befahrene seelische Verzweigungen wie in Booten hinabtreibenâ (GW 8,
985). Wenn der junge, noch Ă€sthetizistisch angehauchte Musil fordert, âdiese Chancen wieder
auszunĂŒtzenâ, und hinzufĂŒgt, âihre Bedeutungâ liege ânicht auf dem Gebiete der Emanzipation
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208