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639âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
dern eine historische RealitÀt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Musil
hĂ€lt die âinzwischen eingetretenen VerĂ€nderungenâ der Frauenrolle fĂŒr unum-
stöĂlich (GW 8, 1197), weil sie aus einem âHohlwerdenâ der ĂŒberkommenen
âsoziale[n] Stellung der Frauâ resultieren (GW 8, 1196)889, und sie gereichen
ihm auch keineswegs zum Anlass einer Klage, im Gegenteil : Wenn er schein-
bar gönnerhaft erwĂ€hnt, dass die âneue Frauâ ânoch ein wenig mĂ€dchenhaft
unsicher bei ihrem neuen Tunâ sei, dass sie âim Durchschnittâ nur âbis zur
Mitte des Gymnasiums und der UniversitĂ€tâ studiere und nach wie vor eher
âdie unkontrollierbaren Berufeâ bevölkere (GW 8, 1198), dann handelt es sich
einerseits um eine zutreffende historische Momentaufnahme, die zu weiteren
emanzipatorischen BemĂŒhungen Anlass gibt, andererseits aber um den Hin-
weis auf das damals besonders bedrohliche âRisiko, in angefertigte MaĂstĂ€be
zurĂŒckzufallenâ890, das in der realen Geschichte wenige Jahre spĂ€ter eine un-
geahnte AktualitÀt erhalten sollte. Die ambivalente Stellung der Frauen wÀh-
rend des ersten Emanzipierungsschubs der Zwischenkriegszeit geht auch aus
einer ironischen ĂuĂerung Leo Fischels hervor, der in den Kapitelgruppen-
EntwĂŒrfen der zwanziger Jahre angesichts seiner neuen Geliebten, einer von
ihm ausgehaltenen, aber nicht nĂ€her vorgestellten âTĂ€nzerinâ, hintersinnig
und mit einigem Zynismus bemerkt : âDas ist die neue Frau. Sie ist schöner als
wir, sie ist geschickter als wir, und ich glaube, wenn ich mit ihr boxen wollte,
wĂŒrde ich mir bald den Bauch halten. Das einzige, worin ein Mann stĂ€rker ist
als die Frau heute, ist Geldverdienen !â (MoE 1605 f., nach M II/1/112)
Vor der Folie dieses zwiespÀltigen Befunds ist die erzÀhlerische Ausge-
staltung der weiblichen Figuren im Mann ohne Eigenschaften zu verstehen,
insbesondere deren Entwicklung gegen Ende des Romans. Einen gewissen
Anachronismus nicht scheuend, zeichnet Musil unterschiedliche Frauentypen
der Frau, sondern auf dem der des Mannes von den herkömmlichen Seelenarten der Erotikâ, ja
âder ideologisch vorzuzeichnende Wegâ laufe âvom passiven Wahlrecht der Frau zur Sinnlich-
keit und von dort zu verfeinerten Menschlichkeitenâ (GW 8, 986), dann besagt das allerdings
wenig fĂŒr die Zeit der Arbeit am groĂen Roman, dessen âparadoxe[s] Frauenbildâ sich mehr
dem Resultat einer kritischen historischen Diagnose als jenem konzeptionellen âWiderspruchâ
verdankt, den Schwartz : Musils Frauenbild, S. 321, behauptet.
889 Vgl. dazu die genauere Argumentation : âMan muĂ sich vergegenwĂ€rtigen, daĂ ursprĂŒnglich
der TĂ€tigkeitskreis der Hauswirtschaft genĂŒgend groĂ und vielfĂ€ltig gewesen ist, um einen gan-
zen Menschen zu brauchen, wĂ€hrend schlieĂlich nur noch Kleinlichkeiten davon ĂŒbriggeblie-
ben waren, die aber immer noch in Verbindung gebracht wurden mit dem lĂ€ngst dafĂŒr zu groĂ
gewordenen Begriff der schaltenden Hausfrau ; aus der mÀchtigen Bundesgenossin des Mannes
ist auf diese Weise zuletzt ein etwas lĂ€cherliches HausmĂŒtterchen geworden, das albern von
seiner TĂ€tigkeit schwĂ€tzte.â (GW 8, 1196)
890 Fanelli : âDie Frau gestern und morgenâ, S. 192.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208