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640 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
und stattet sie sowohl mit Charakteristika der Vorkriegsgesellschaft als auch
mit solchen der zwanziger Jahre aus. Er tut dies natĂŒrlich stets aus mĂ€nnli-
cher Perspektive, was textintern betrachtet nicht nur eine Folge der aukto-
rialen ErzĂ€hlsituation ist891, sondern auch der ĂŒber lange Strecken zentralen
Position Ulrichs im Romangeschehen. Dabei entwickelt er Beschreibungen
und Analysen, die wohl auch in gendertheoretischer Hinsicht Interesse bean-
spruchen können, weil sie die Verbindung des âmenschliche[n] Körper[s] [âŠ]
mit einem bestimmten System von Vorstellungen und GefĂŒhlenâ als historisch
variable GröĂe fassen und zu folgender Diagnose gelangen : â[D]iese Ideologi-
sierung ist in den Jahrhunderten wie ein Strahl, der steigt und sinkt. Heute ist
er in der NĂ€he seines tiefsten Punktes, fast eingeschluckt ; aber er wird ohne
Zweifel in einer neuen Verbindung wieder aufsteigen.â (GW 8, 1198) Eine
gewisse Skepsis ist bei dieser prognostischen Bemerkung nicht zu ĂŒberhö-
ren, wie schon Emanuela Veronica Fanelli bemerkt hat : âDer abschlieĂende
Satz enthĂ€lt die miĂtrauische Vermutung, daĂ das Karussell von Projektionen
und Imaginationen, von WĂŒnschen, Ăngsten und SehnsĂŒchten um die Frau
weiter in Gang gehalten wird.â892 Davon unbenommen bleibt freilich Musils
utopisch-literarische Suche nach dem âneuenâ, dem âanderen Menschenâ auch
und gerade in der Frau, mit der er seiner eigenen PrÀgung durch zeitgenös-
sische Rollenmuster893 zumindest projektiv zu entkommen trachtet : âEs sind
unzĂ€hlige und ganz verschiedene Möglichkeiten dafĂŒr gegeben, und die Zu-
kunft verdeckt sie wirklich nur wie ein Schleier, nicht wie eine mit Vorurteilen
bestĂŒckte Ringmauer.â (GW 8, 1198 f.)
Das kritische Bewusstsein von der historischen Berechtigung der Frau en-
emanzipation, das im Fall des Mann ohne Eigenschaften die vor allem von der Àl-
teren feministischen Literaturwissenschaft betriebene âFrauenbildforschungâ894
mit immer schon ironisch gebrochenen Frauenbildern konfrontiert895, bedeutet
891 NĂŒnning/NĂŒnning : Making Gendered Selves, S. 36, bestimmen im Anschluss an Ina Schabert
die gendertheoretischen âImplikationenâ, âdie aus der ĂŒbergeordneten und privilegierten Posi-
tion auktorialer ErzĂ€hler resultierenâ, wie folgt : âDa heterodiegetische ErzĂ€hlinstanzen Einblick
in das Bewusstsein aller Figuren haben, gleichzeitig an mehreren SchauplÀtzen anwesend sein
können und Ăberblick ĂŒber den gesamten Handlungsverlauf besitzen, weisen sie implizit Merk-
male auf, die traditionell eher MÀnnern als Frauen zugeschrieben wurden wie z. B. AktivitÀt,
intellektuelle Ăberlegenheit, Kontrolle ĂŒber Ereignisse, Dominanzstreben gegenĂŒber anderen.â
892 Fanelli : âDie Frau gestern und morgenâ, S. 194.
893 Vgl. Schwartz : Musils Frauenbild, S. 321.
894 Vgl. dazu Gymnich : Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung, S. 122 u.
132.
895 Ein Umstand, dem nicht alle kritischen Untersuchungen immer gerecht werden ; vgl. etwa
Schwartz : Musils Frauenbild, passim.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208