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642 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Auf diese Weise stellt er implizit die historisch der MĂ€nnerrolle entspre-
chende Ignoranz der kulturellen Formung menschlicher Begierde nach Ko-
jĂšve, die sich etwa im Hang zu einem die gesellschaftlichen Normen durch-
brechenden âreinenâ Sexus mit der Prostituierten Ă€uĂert, in all seiner sozialen
Defizienz aus. Er vermag damit indirekt seine eigene Stellung als mÀnnlicher
Autor im Rahmen einer literarischen Sozioanalyse ansatzweise zu objekti-
vieren, indem er nicht nur anschaulich vor Augen fĂŒhrt, inwiefern Frauen
die kulturelle Formung des Begehrens akzeptieren und emanzipatorisch ein-
zusetzen beginnen, sondern zugleich zeigt, dass der âmĂ€nnlicheâ Glaube an
den âreinenâ, die kulturelle Formung negierenden Sexus selbst nicht voraus-
setzungslos ist, vielmehr sozial codiert. Angesichts des konzeptionellen Ge-
wichts, das die Frauendarstellungen bei Musil innehaben, ĂŒberrascht es nicht,
dass der am âanderenâ Geschlecht als erotischem Gegenstand weniger inte-
ressierte Thomas Mann hinsichtlich der weiblichen Gestalten Dostojewskis
und Musils (aber mit Blick auf den Novellenband Vereinigungen) idiosynkra-
tisch angemerkt hat : âZuviel weibliches Geschlecht.â898 Derartige kritische
ĂuĂerungen zur Rolle und Gestaltung des weiblichen Personals in Musils Er-
zĂ€hltexten verweisen ex negativo auf den groĂen textstrukturellen Stellenwert
von dessen mÀnnlich-heterosexueller Frauendarstellung, die im Folgenden
gemeinsam mit ihrem kulturhistorischen Ort in den Blick genommen werden
soll.
Neben der diachronen Dimension des textuellen Niederschlags von textex-
ternen, kulturgeschichtlichen Verschiebungen ist in der hier unternommenen
Sozioanalyse des Mann ohne Eigenschaften also vor allem auch auf die textin-
terne synchrone Dimension zu achten, die auf eine jeweils spezifische erzÀhle-
rische Funktionalisierung verweist. Dabei geht es nicht nur allgemein âum die
Platzanweisung fĂŒr das Weibliche in einer symbolischen Ordnungâ899, sondern
um ganz spezifische EntwĂŒrfe weiblicher Habitus als differenzielle âErzeu-
gungsprinzipienâ sozialer Praxis in einer noch unter dem Gesetz der âmĂ€nnli-
chen Herrschaftâ stehenden Gesellschaft. Nach Bourdieus strukturalistisch ins-
pirierter Konzeption bilden die âweiblichen Figurenâ eines Romans â genauso
wie die mĂ€nnlichen â erzĂ€hlstrukturell âein System von Möglichkeitenâ, denn
âjede einzelne ist bestimmt im Gegensatz zu den [âŠ] anderenâ.900 Sie können
nur aus ihren unterschiedlichen BezĂŒgen und deren Interdependenz verstan-
den werden, wie schon Musil wusste : âDas, was man die neue Frau nennt,
898 Mann : TagebĂŒcher, S. 376.
899 Bovenschen : Krieg und Schneiderkunst, S. 11.
900 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 50.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208