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656 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
dungen ausgehende befremdliche Wirkung940 folgendermaĂen : âDas sind
Gebilde, aus denen das Leben geflohen ist, Zeitlupenaufnahmen der Liebe,
in denen die Form als solche erschreckt, was sie immer tut, wenn sie nicht
mehr vom FluĂ der Empfindungen umspĂŒlt wird.â (GW 8, 1193) Die zeitli-
che Distanz fĂŒhrt zu einer Wahrnehmungsverfremdung, die das nicht mehr
Gewohnte, aber aus der Vergangenheit dennoch Bekannte941 â wie nach
1900 etwa die Sans-Ventre-Damenmode der siebziger und achtziger Jahre des
19. Jahrhunderts942 â in ein ganz eigentĂŒmliches Licht rĂŒckt. Durch die in
einer merkwĂŒrdigen Schwebe gehaltene gleichzeitige IdentitĂ€ts- und Dif-
ferenzerfahrung wird das SelbstverstÀndnis des Betrachters in Frage gestellt
oder zumindest relativiert.943 Der kulturelle bzw. soziale Abstand zwischen
verschiedenen Phasen des eigenen Lebens tritt so als PhÀnomen umso deut-
licher ins Bewusstsein und lÀsst die von Musil auch andernorts ironisierte
naive Vorstellung einer ungebrochenen personalen âEigenschaftlichkeitâ als
bloĂe ChimĂ€re erscheinen.944 Nicht von ungefĂ€hr vermag Leona schlieĂ-
lich angesichts des Kriegsausbruchs ihre bisher âentscheidende QualitĂ€t,
eine unzeitgemĂ€Ăe Kokotte zu seinâ, einfach abzulegen ; auf höchst ironische
940 Anschaulich wird dieser âBefremdungs-Effektâ auch in der karikierenden Darstellung der Mode
des spĂ€ten 19. Jahrhunderts durch Zweig : Die Welt von Gestern, S. 90â97.
941 Vgl. auch das Fragment Mode (ca. 1930), worin Musil ĂŒber âModebilder aus solchen vergan-
genen Zeitenâ sinniert, âdie ein groĂer Teil von uns noch mitgemacht hatâ : âMan sieht HĂŒte,
die wie RĂ€der oder groĂe KĂ€seringe sind, gepuffte Ărmel, wunderliche Linien vom Magen bis
zum Hals und SchöĂe voll Unnatur. Der erste Eindruck ist der eines komischen Ungeschicks,
dem unsere Gegenwart viel mehr entronnen sei als aus ihm hervorgegangen, gemischt mit der
Befriedigung, daĂ wir es in wenigen Jahren so weit gebracht haben.â Musil konstatiert fĂŒr das
âGefĂŒhlâ seiner Zeitgenossen âetwa bei 1870â einen âBruch, so daĂ uns alles, was Ă€lter ist, als
historisches KostĂŒm entsprochen hĂ€tte, wĂ€hrend ab 1870 ein GefĂŒhl verlassener Torheit in uns
erregt wird, geradeso als ob wir irgendwie dafĂŒr noch verantwortlich wĂ€ren.â (GW 7, 805, nach
M VI/1/176)
942 Vgl. Fanelli : âDie Frau gestern und morgenâ, S. 148.
943 WĂ€hrend nach MĂŒller-Funk : Der gerissene Faden, S. 160, âdie Zeitkunst des ErzĂ€hlens [âŠ] die
disparaten und kontingenten Ereignisse und Momente des Lebens kontinuierlich zusammen-
fĂŒgt und so IdentitĂ€t [âŠ] generiertâ, wird Musil zufolge die unter anderem auf solche Weise
erzeugte âSelbstverstĂ€ndlichkeit, Evidenzâ der personalen IdentitĂ€t durch das Betrachten alter
Fotografien grĂŒndlich erschĂŒttert. Die identitĂ€tsstiftende âKonstruktion des Selbst, die sich ver-
gisst und so vergegenstĂ€ndlichtâ, weicht dergestalt einer Erfahrung des Konstruktionscharak-
ters und somit der ontologischen Kontingenz jeder Form von kontinuierlichem Selbstbewusst-
sein.
944 Vgl. dazu die Reflexion in Musils Fragment Mode : â[E]s scheint ein Zeichen fĂŒr das zu sein, was
wir noch nicht ganz als Vergangenheit und mehr oder minder als Gegenwart empfinden, daĂ
wir uns dafĂŒr schĂ€men. Denn wir schĂ€men uns der LĂ€cherlichkeit unserer abgelegten Kleider.â
(GW 7, 805, nach M VI/1/176)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208