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664 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
schwebt und mit seinen Schauern das strahlende GlĂŒck zum sanften Lampenschein
dĂ€mpft. Sie hatte nur einen Fehler, den, daĂ sie in einem ganz ungewöhnlichen MaĂ
schon durch den Anblick von MĂ€nnern erregbar war. Sie war durchaus nicht lĂŒstern ;
sie war sinnlich, wie andere Menschen andere Leiden haben, zum Beispiel an den
HĂ€nden schwitzen oder leicht die Farbe wechseln, es war ihr scheinbar angeboren,
und sie konnte niemals dagegen aufkommen. (MoE 42)
Manifest wird in dieser ironischen Charakterisierung auf der Basis âbildungs-
bĂŒrgerlicher Sprech- und Denkweiseâ965 ein gewaltiger Hiat zwischen Bona-
deas hochfahrenden, ja Ă€uĂerst rigiden moralischen AnsprĂŒchen und ihrer
relativ disziplinlosen sozialen bzw. sexuellen Praxis, was es ihr etwa als âun-
gehörigâ erscheinen lĂ€sst, in halbnackter âLageâ ĂŒber Moosbrugger zu dis-
kutieren (MoE 120). Ihre ungewöhnliche Erregbarkeit durch MĂ€nner â aus
âLiebessuchtâ, nicht aus âLĂŒsternheitâ !966 â ist freilich nur âscheinbar angebo-
renâ, tatsĂ€chlich aber in einer epochen- und gesellschaftstypischen Ehekon-
stellation begrĂŒndet967, die der ErzĂ€hler selbst sozialpsychologisch herleitet :
Die seelische Wirkung jahrelangen einem Menschen Willfahrens, dessen Frau sie
mehr aus Klugheit als aus Herzensverlangen geworden war, hatte in Bonadea die TĂ€u-
schung ausgebildet, daĂ sie körperlich ĂŒbererregbar sei, und hatte diese Einbildung
beinahe unabhĂ€ngig von ihrem BewuĂtsein gemacht. Ein ihr selbst unbegreiflicher
innerer Zwang kettete sie an diesen durch die UmstĂ€nde begĂŒnstigten Mann ; sie ver-
achtete ihn wegen ihrer eigenen WillensschwĂ€che und fĂŒhlte sich schwach, um ihn
verachten zu können ; sie betrog ihn, um ihm zu entfliehen, sprach aber dabei in den
unpassendsten Augenblicken von ihm oder den Kindern, die sie von ihm hatte, und
war niemals imstande, sich ganz von ihm loszumachen. Gleich vielen unglĂŒcklichen
Frauen empfing sie schlieĂlich ihre Haltung in einem sonst recht schwankenden Le-
bensraum von der Abneigung gegen ihren fest dastehenden Gatten und ĂŒbertrug ih-
ren Konflikt mit ihm in jedes neue Erlebnis, das sie von ihm erlösen sollte. (MoE 43)
Die kritische Diagnose des ErzÀhlers wird von seinem psychologischen Ge-
wĂ€hrsmann bestĂ€tigt : So sind es nach Kretschmer âvor allem ungĂŒnstige Ehe-
965 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 205.
966 Vgl. Hartwig : Poetik der Ăbereinstimmung, S. 106.
967 Vgl. dazu bereits Musils Eintrag ĂŒber May Török im Rahmen der âZeitfiguren. 1920â im Ar-
beitsheft 9 : âWenn ihr ein Mann gefĂ€llt und sie nur berĂŒhrt, ist sie verloren. BrĂŒder und MĂ€nner
von Freundinnen lösen jedoch Hemmung aus, die stĂ€rker ist. [Danach dĂŒrfte doch nicht nur
physiologische libido, sondern vorstellungsmĂ€Ăige im Spiel sein. Ăbrigens ist das eine Frage,
ĂŒber die nachgelesen werden muĂ]â (Tb 1, 430).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208