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679âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
nern) so genannte Makart-Stil âsich nicht so sehr auf die Malerei [bezog],
als auf Architektur, Kunstgewerbe, Mode und vor allem den Wohnstil, mit
einem Wort auf das Erscheinungsbild einer âkostĂŒmiertenâ Gesellschaftâ1017 â
gekennzeichnet durch jene âfröhliche Apokalypseâ, die Hermann Broch so
treffend charakterisiert hat.1018 In âMakarts weithin berĂŒhmte[m], mit anti-
ken oder nachgemachten Möbeln und GegenstÀnden, Draperien, Teppichen,
den trockenen âMakart-Bouquetsâ und nicht zuletzt mit seinen eigenen Bil-
dern angefĂŒllte[m] Atelierâ1019 fand das Wiener GroĂbĂŒrgertum â bei Musil
vertreten durch die âPachhofenscheâ Familie (vgl. MoE 291 f.) â ein nachah-
menswertes Modell fĂŒr die eigene reprĂ€sentative Wohnungs- und Lebensge-
staltung. Clarisses Vater sucht offenbar auf recht epigonale Weise am âschier
unglaublichen Erfolgâ1020 des groĂen Historienmalers zu partizipieren, wobei
der Zenit des historistischen Kunstgeschmacks zur erzĂ€hlten Zeit lĂ€ngst ĂŒber-
schritten ist, was selbst Diotima schon weiĂ : Mit âsolchem Seelenplunderâ aus
einer âvermoderten Zeitâ könne man im Jahr 1914 âdie Menschen nicht mehr
ihrem Alltagsleben entreiĂenâ, hĂ€lt sie dem Grafen Leinsdorf entgegen, der
sich gern an âden berĂŒhmten Makart-Festzugâ erinnert, welcher âin den Sieb-
zigerjahrenâ mit âteppichbehĂ€ngten Wagenâ, âschwer beschirrten Pferde[n]â
und âTrompeter[n]â in âmittelalterliche[r] Trachtâ âganz Ăsterreich in Begeis-
terung vereint hatteâ (MoE 563 f.), und damit die ĂŒberholten Vorlieben eines
bereits betagten Herren offenbart.
Die habituelle und geschmackliche PrÀgung der Tochter van Helmonds
hat man sich deshalb keineswegs im Sinne einer bloĂ passiven Ăbernahme
vĂ€terlicher Maximen vorzustellen. WĂ€hrend andernorts bereits der âImpressi-
onismusâ triumphiert, malt van Helmond nĂ€mlich weiterhin â und sogar noch
wĂ€hrend der im Jahr 1913/14 angesiedelten BasiserzĂ€hlung â âaltmodisch-
musikalischâ, oder anders ausgedrĂŒckt : âbraune SoĂe mit PfauenschwĂ€nzenâ,
wie Clarisse nicht eben respektvoll berichtet (MoE 292). Dem Vorbild ihres
spÀteren Gatten Walter folgend, der als junger Mann in offen ausgetragener
Opposition zu seinem Schwiegervater in spe âfĂŒr freie Luft, klarlinige engli-
sche Gebrauchsformenâ, kurz : fĂŒr âdas Neue und Ehrlicheâ plĂ€dierte, neigt sie
in einer Geste der AbstoĂung von der Vaterwelt zur âneuen Kunstrichtungâ
(MoE 292). Dies ist auch insofern bezeichnend, als Makart â lange Zeit âdie
dominierende Persönlichkeit des Wiener Kunstlebensâ â mit seinem opulen-
1017 Ebd.
1018 Vgl. Broch : Hofmannsthal und seine Zeit, S. 145â153, Zit. S. 145.
1019 Frodl : Hans Makart, S. 359.
1020 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208