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680 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ten Werk durch eine beispiellose Medialisierung allmÀhlich zum beliebten Ge-
sprÀchs- und Bewunderungsgegenstand breiter Massen wurde1021, wovon sich
die von Clarisse beanspruchte junge Avantgarde aus naheliegenden GrĂŒnden
abzusetzen hatte : âSie verabscheute darum aus ihrer ganzen Seele alle Wollust
der Kunst und fĂŒhlte sich zu allem Mager-Strengen hingezogen, ob es nun die
Metageometrie der atonalen neuen Tondichtung war oder der enthÀutete, wie
ein MuskelprĂ€parat klar gewordene Wille klassischer Formen.â (MoE 52 ; vgl.
MoE 437) Die Malertochter hegt sogar selber gewaltige kĂŒnstlerische Ambiti-
onen, doch :
Clarisse war nicht so begabt wie Walter, das hatte sie immer gefĂŒhlt. Aber sie hielt Ge-
nie fĂŒr eine Frage des Willens. Mit wilder Energie hatte sie sich das Studium der Musik
anzueignen gesucht ; es war nicht unmöglich, daĂ sie ĂŒberhaupt nicht musikalisch war,
aber sie besaĂ zehn sehnige Klavierfinger und Entschlossenheit ; sie ĂŒbte tagelang und
trieb ihre Finger wie zehn magere Ochsen an, die etwas ĂŒbermĂ€chtig Schweres aus
dem Grund reiĂen sollen. In der gleichen Weise betrieb sie die Malerei. (MoE 53)
Es ist also ebenfalls eine dilettantische Disposition, durch die sich Clarisse aus-
zeichnet, die sie jedoch â im Unterschied zum begabteren, aber auch weiche-
ren Walter â durch harte, zĂ€he Arbeit an sich selber wettzumachen sucht ;
mit dieser âtypisch kleinbĂŒrgerliche[n] Anschauung, in der sozialer Erfolg von
der WillensstĂ€rke und dem guten Willen jedes einzelnen abhĂ€ngtâ1022, meint
sie, der Décadence entrinnen zu können. TatsÀchlich ist bei ihr in gewisser
Hinsicht eine Inversion des Werdegangs ihres dilettantischen Mannes zu be-
obachten, wie Howald festgestellt hat : âWĂ€hrend Walter sich vom Nietzsche-
inspirierten Wagner-Kritiker [âŠ] hin zum Wagner-SĂŒchtigen entwickelt, geht
Clarisse den Weg, den Nietzsche selbst vollzogen hat : von der Wagner-Vereh-
rerin zur Wagner-Kritikerin.â1023 Eigene schöpferische Potenz zeigt sie dabei
allerdings nicht.
In habitueller Hinsicht ist Clarisse von einer ganz Ă€hnlichen SelbstĂŒber-
schĂ€tzung wie ihr Ehemann gekennzeichnet : âEines Tags â sie hĂ€tte auf den
1021 Ebd., S. 359 f.
1022 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 42.
1023 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 235. Es bleibt allerdings unerfind-
lich, woher Howald seine Information von der frĂŒhen Wagner-Verehrung Clarisses bezieht.
Interessanterweise hat demgegenĂŒber gerade Hans Makart, das Modell des von ihr Ă€sthetisch
verachteten KĂŒnstlervaters, den Komponisten nicht nur persönlich gut gekannt, sondern un-
mittelbar nach dessen Tod auch eine phantasievolle Interpretation des Ring des Nibelungen
angefertigt ; vgl. Frodl : Hans Makart, S. 360.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208