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681âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Tag ausrechnen können, wann das geschah, â war sie aus dem Schlaf der Kind-
heit erwacht, und da war auch schon die Ăberzeugung fertig gewesen, daĂ
sie berufen sei, etwas auszurichten, eine besondere Rolle zu spielen, vielleicht
sogar zu etwas GroĂem ausersehen sei.â (MoE 145) Wenig spĂ€ter heiĂt es so-
gar ohne jede EinschrĂ€nkung : âSie wuĂte nun, daĂ sie etwas Titanenhaftes tun
werde ; was es sein wĂŒrde, vermochte sie noch nicht zu sagen, aber einstweilen
empfand sie es am heftigsten bei Musikâ (MoE 146). Allenthalben frönt Cla-
risse jener kruden Genieideologie, deren leere Dogmatik der zeitgenössische
Wiener Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Edgar Zilsel so eingÀnglich
wie kritisch analysiert hat1024 und die im Romankontext â etwa bereits im 13.
Kapitel des Ersten Buchs (vgl. MoE 44â47) â durch ironische Auslassungen
des ErzÀhlers zur zeitgenössischen Konjunktur des Genieglaubens deutlich de-
savouiert erscheint.1025 â[S]ie glaubte schnurstracks an das Genie. Was das sei,
wuĂte sie nicht ; aber ihr ganzer Körper begann zu zittern und sich zu span-
nen, wenn davon die Rede war ; man fĂŒhlt es oder man fĂŒhlt es nicht, das war
ihr einziges BeweisstĂŒck.â (MoE 62) Wie solche Worte belegen, ist Clarisse
gleich Walter von einer irrationalen Grundhaltung gezeichnet, wozu auch ge-
hört, dass sie â in diametralem Gegensatz zu Ulrich â âkeine sehr gĂŒnstige
Meinung von Mathematikâ hegt (MoE 53). Wenn der Musilâsche Protagonist
sie auch deshalb als âungebildet wie ein kleines Tierâ (MoE 113) bezeichnet,
dann reiht er sie damit jedoch keineswegs automatisch in die âSerie der âdumm
aber schönâ-Frauenfiguren des Romansâ ein, wie Agata Schwartz nahelegt.1026
Abgesehen von der ungeklÀrten Frage, ob ein solches mÀnnliches Klischee der
Frau tatsĂ€chlich so charakteristisch fĂŒr eine ganze Serie von weiblichen Figu-
ren im Mann ohne Eigenschaften ist, sollte fehlende Bildung nicht ohne weite-
res mit Dummheit gleichgesetzt werden. Im Rahmen eines Romans, der sich
als kritische Diagnose der europĂ€ischen Vorkriegsgesellschaft des frĂŒhen 20.
Jahrhunderts versteht, ist ein Bildungsdefizit bei Frauen nicht notwendig selbst
verschuldet ; es wirft vielmehr ein kennzeichnendes Licht auf jene EinschrÀn-
kungen, denen die Angehörigen des weiblichen Geschlechts in der patriarcha-
lischen Gesellschaft Kakaniens unterliegen.
Clarisse ist die Frau, die Ulrich in mancher Hinsicht am nÀchsten steht,
was allerdings kaum daran liegt, dass âsie, Ă€hnlich diesem, in ihrer Jugend da-
von trĂ€umt, etwas GroĂes zu vollbringenâ1027. Diese Eigenschaft teilt sie im
1024 Vgl. Zilsel : Die Geniereligion ; mehr dazu bei Innerhofer : Fantastik und Möglichkeitssinn, S. 5.
1025 Vgl. u. a. Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 77.
1026 Schwartz : Musils Frauenbild, S. 326.
1027 So Schwartz ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208