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688 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
dessen gedankliches VerknĂŒpfungsverfahren nicht zuletzt eines der beiden
Vertextungsprinzipien des Essays darstellt :
Der Ausdruck âAssoziationâ bedeutet nichts weiter als die VerknĂŒpfung von seelischen Inhal-
ten. â Die VerknĂŒpfung der Einzelglieder untereinander richtet sich entweder nach
der KontiguitĂ€t, dem rĂ€umlich-zeitlichen Beieinander (z. B. Birne â Gartenhaus oder
Wohnung â Ziegel) oder nach der Ăhnlichkeit von Wortklang, Bild oder Inhalt (z. B.
Ziegel â Spiegel oder Menschen â Tiere). Man bezeichnet diese VerknĂŒpfungsprin-
zipien auch als Assoziationsgesetze. Nach denselben Prinzipien und ebenso wertungs-
los wie die innerlich aufsteigenden Bilder werden auch die Ă€uĂeren SinneseindrĂŒcke
zu beliebigen Ausgangspunkten fĂŒr das freiassoziative Denken. Das apperzeptive
Denken sperrt ebenso wie die Vorstellungen, so auch die Wahrnehmungen vom hel-
len BewuĂtsein aus, sofern sie nicht zu Obervorstellungen Bezug haben. Der scharf
nachdenkende Mensch âmerkt nicht mehr, was in ihm vorgehtâ. Sobald im freiassozi-
ativen Denken diese Zensur wegfÀllt, resultiert eine erhöhte Ablenkbarkeit des Denkens
durch Ă€uĂere SinneseindrĂŒcke.1054
Der Bezug zu Clarisse liegt hier gleich in mehrerer Hinsicht nahe, ist ihr Ge-
dankengang doch mehr durch âinnerlich aufsteigende Bilderâ sowie durch die
Integration âĂ€uĂerer SinneseindrĂŒckeâ als durch eine nach kausalen, spatialen
oder temporalen Gesichtspunkten gliedernde âdeterminierende Tendenzâ be-
stimmt. Des Weiteren bemerkt Kretschmer,
daĂ das freiassoziative Denken, je reiner es wird, desto mehr zur konkreten Bild-
haftigkeit zurĂŒckstrebt. Je mehr wir uns vollstĂ€ndig entspannen, desto mehr nĂ€hert
sich das freie Assoziieren in passiver Ruhelage dem Traum- und Hypnosetypus. Die
satzmĂ€Ăige VerknĂŒpfung beginnt sich aufzulösen, die wörtliche Formulierung der
Gedanken macht zusehends den Realbildern, dem unmittelbaren Anschauen inner-
lich aufsteigender lebendiger Figuren und Szenen Platz. Zugleich mit dem BewuĂt-
sein der vollkommenen PassivitÀt des inneren Erlebens lockert sich dann auch seine
zeitliche Umrahmung. Erinnerungen und ZukunftswĂŒnsche werden mit aktuellem
Gegenwartscharakter durchlebt. Hier ist ungefĂ€hr die Ă€uĂerste Grenze des Wach-
denkens. Bei weiterem Fortschreiten der seelischen Entspannung wird das BewuĂt-
sein immer unklarer und dÀmmriger ; nunmehr beginnt sich nach der zeitlichen auch
die rÀumliche GegenstÀndlichkeit der inneren Bilder zu lösen, zwischen die szenisch
geordneten Gruppen schieben sich immer reichlicher phantastische Elemente, d. h.
asyntaktische katathyme Bildagglutinationen ein ; damit ist der tiefe Traumzustand
1054 Ebd., S. 92.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208