Seite - 691 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 691 -
Text der Seite - 691 -
691âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Hier sind gleich mehrere der von Kretschmer beschriebenen Symptome zu
beobachten : so etwa wiederum der âWegfall einer Obervorstellung, einer âdeter-
minierenden Tendenzâ, die gleichsam wie ein Thema oder eine Ăberschrift
ĂŒber dem Ganzen stĂŒnde und auf die nun alle einzelnen Teile Bezug hĂ€ttenâ.
Daraus resultiert Clarisses denkerisches Problem : Sie kann zwar durch asso-
ziative VerknĂŒpfung âvon einem zum anderenâ kommen, aber nicht âdorthinâ,
wohin sie möchte. Die âschwarze[n] Vögel, die in Scharen um ein kleines
MĂ€dchen flattern, das im Schnee stehtâ, sind als katathyme Bildagglutinati-
onen eine Reminiszenz an Clarisses phantastische Imagination von Moos-
brugger als âNarrâ oder âschwarzer Vogel des Himmelsâ (MoE 145). Deutlich
bemerkbar ist auch die gedankliche âVerknĂŒpfung der Einzelglieder unterein-
anderâ nach den Gesichtspunkten âder KontiguitĂ€t, dem rĂ€umlich-zeitlichen
Beieinanderâ bzw. hier der Farbe (schwarz-weiĂes Klavier, schwarze Vögel/
Schnee, schwarze Wand/weiĂe Flecken) oder âder Ăhnlichkeit von Wortklang,
Bild oder Inhaltâ, wie etwa die durch die Bildung von weiteren Alliteratio-
nen angereicherten Assoziationen1059 Clarisses um das Wortfeld âschlĂ€ngeln/
Schlangen/Schlingen/umschlangenâ zeigen :
Schlangen, Schlingen, schlĂŒpfrig : so lief das Leben. Ihre Gedanken fingen an zu lau-
fen wie das Leben. Die Spitzen ihrer Finger tauchten in den Sturzbach der Musik.
Im Bachbett der Musik kamen Schlangen und Schlingen herunter. Da tat sich ret-
tend wie eine stille Bucht das GefÀngnis auf, in dem Moosbrugger verborgengehalten
wurde. Clarissens Gedanken traten schaudernd in seine Zelle ein. âMan muĂ bis zum
Ende Musik machen !â wiederholte sie sich aufmunternd, aber ihr Herz zitterte heftig.
Als es sich beruhigt hatte, war die ganze Zelle mit ihrem Ich angefĂŒllt. Das war ein
so mildes GefĂŒhl wie eine Wundsalbe, aber als sie es fĂŒr immer festhalten wollte, fing
es sich zu öffnen an und auseinanderzuschieben wie ein MÀrchen oder ein Traum.
(MoE 146)
Clarisses Wahrnehmung entspricht hier in ihrer katathymen Logik den von
Kretschmer (in offensichtlicher Anlehnung an Freuds Traumdeutung) beschrie-
benen âasyntaktischen Bildserienâ des Traums.1060 Die âAnfĂŒllungâ der imaginier-
1059 Zur schizophrenen GedankenverknĂŒpfung vgl. auch Bleuler : Lehrbuch der Psychiatrie,
S. 287 : âInfolge des Mangels eines Zieles gerĂ€t der Gedankengang so leicht in Nebenassoziatio-
nen, daĂ unter UmstĂ€nden bloĂe Alliterationen die leitenden Faktoren werden, wie in âSchuh
â Schönheitâ.â
1060 Vgl. Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 55 : âErstens finden wir in dem Traum nir-
gends abstrakte GedankengÀnge, sondern der ganze Hergang ist sinnlich bildhaft. Bild reiht
sich an Bild, ohne Motivierung oder logische VerknĂŒpfung. Nicht einmal der Gegenstands-
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208