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695âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
bereits erwÀhnten Wolfgang Theodor Reichle, den Musil nach dem Ersten
Weltkrieg in der HelmstreitmĂŒhle kennengelernt hatte.1069 In einem 1920 no-
tierten Eintrag in sein Arbeitsheft 8 konzediert er âFrau Reichleâ zwar â[e]twas
von der eleganten Wiener Frau, aber ohne Figur. Und etwas Kniffliges, wie
von schlechter Herkunft, Zahnarmes im Gesicht. Wenn sie geht, hat ihr Ober-
körper etwas kreisförmig Gebogenes. Trotzdem raucht sie Zigaretten.â (Tb 1,
413) Die zuletzt erwÀhnte Eigenschaft des Rauchens verweist in den Zeiten
der grassierenden Inflation immerhin auf eine gewisse Grandezza, die auch
der fiktionalen Figur Musils bei aller konstitutiven VerhÀrmtheit nicht gÀnz-
lich abgehen wird, obwohl ihr âMilde suggerierenderâ1070 Vorname in deutlich
ironischer Absicht auf eine falsche FĂ€hrte fĂŒhrt. Nur erwĂ€hnt seien in diesem
Zusammenhang die manifest sadomasochistischen Anwandlungen, die Musil
der Klementine Fischer (!) noch Anfang der zwanziger Jahre im Spion-Projekt
auf den Leib schreibt und die Fanta in seiner entstehungsgeschichtlichen Re-
konstruktion genĂŒsslich ausbreitet1071 ; sie spielen in der kanonischen Fassung
keine Rolle mehr.
Zu Beginn der BasiserzÀhlung ist Klementine Fischel seit 24 Jahren ver-
heiratet (vgl. MoE 203) und hat eine 23âjĂ€hrige Tochter namens Gerda (vgl.
MoE 206) ; sie wird von Pekar einem (um die Figur der Tochter angeordne-
ten) âzweiten Beziehungsfeldâ zugerechnet, das âwesentlich einfacher struk-
turiertâ sei âals das ersteâ um Diotima.1072 Ăber Klementines Alter gibt der
ErzÀhler keine Auskunft, doch angesichts der Tatsache, dass Frauen seiner-
zeit meist jĂŒnger als ihre Gatten waren, kann angenommen werden, sie sei
etwa 45 bis 50 Jahre alt. Ăber ihre Herkunft erweist sich der Romantext als
entschieden auskunftsfreudiger, was in diesem Fall auf die besondere erzÀhl-
logische Bedeutung der soziologischen Parameter schlieĂen lĂ€sst (die hier
auffallend viel Gewicht erhalten, wÀhrend andere Informationen zur Figur
vergleichsweise spĂ€rlich bleiben) : âKlementine Fischel stammte aus einer al-
ten Beamtenfamilie, ihr Vater war PrÀsident des Obersten Rechnungshofes
gewesen, ihr GroĂvater Kameralrat, und drei ihrer BrĂŒder nahmen hohe Stel-
lungen in verschiedenen Ministerien ein.â (MoE 203) Es ist dieser privilegierte
soziale Hintergrund, von dem auch ihr jĂŒdischer Gatte profitiert1073 und der
1069 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 891 f.
1070 Ebd., S. 893.
1071 Vgl. Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 199â201.
1072 Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 232.
1073 So verdankt Fischel etwa die von ihm vergessene âerste Aufforderungâ, an den Sitzungen zur
Vorbereitung der Parallelaktion teilzunehmen, ânur den Beziehungen seiner Gattin Klemen-
tineâ (MoE 203 ; vgl. MoE 136).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208