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700 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ĂŒppig vorhanden ist wie das ökonomische, macht der ErzĂ€hler hingegen eher
verhaltene Angaben :
Sie war durch ein Realgymnasium und einige Semester der UniversitÀt gegangen ; sie
hatte eine Unmenge neuen Wissens berĂŒhrt, das nicht mehr in den alten Fassungen
des klassischen und humanistischen Geistes unterzubringen war ; in vielen jungen
Leuten hinterlĂ€Ăt solcher Bildungsgang heute das GefĂŒhl, daĂ er gĂ€nzlich ohnmĂ€ch-
tig sei, wÀhrend vor ihnen die neue Zeit wie eine neue Welt liegt, deren Boden mit
den alten Werkzeugen nicht bearbeitet werden kann. (MoE 487)
Gerdas âBildungsgangâ erscheint hier als in sich widersprĂŒchlich, weil er voll-
kommen unterschiedlich geartetes Wissen relativ unvermittelt absorbiert und
sie als Vertreterin der âjungen Leuteâ keineswegs auf die tatsĂ€chlichen Her-
ausforderungen und Erfordernisse der modernen Gesellschaft vorbereitet.
WĂ€hrend der âklassische und humanistische Geistâ, der noch die âFassungâ des
schulischen und akademischen Curriculums abgab und insbesondere bĂŒrgerli-
chen MĂ€dchen nahegelegt wurde, zunehmend obsolet erscheint, hat die junge
Gerda das massenhaft auf sie hereinbrechende âneue Wissenâ nur âberĂŒhrtâ,
sich aber nicht wirklich anverwandelt. Das von ihr erworbene kulturelle Kapi-
tal bleibt inhomogen und brĂŒchig.
Daran Ă€ndert wenig, dass Gerda âein kluges MĂ€dchenâ (MoE 313) ist, wie
der ErzÀhler durchaus ohne Ironie berichtet, denn das macht ihre schwierige
familiĂ€re Situation nicht leichter, zumal sie habituell â den prekĂ€ren elterli-
chen Vorgaben entsprechend â mit einem recht instabilen Charakter ausge-
stattet erscheint : âGerda war nervös und blutarm und regte sich gleich so sehr
auf, wenn man nicht vorsichtig mit ihr umging.â (MoE 206 ; vgl. MoE 308)
Die leichte Erregbarkeit teilt sie mit ihrem Vater Leo, wÀhrend die offenbar
von der Mutter geerbte, weil seinerzeit weiblich konnotierte NervositÀt als
typische Zeiterscheinung gelten kann. Musils ErzÀhler grundiert sie im Un-
terschied zur damals gÀngigen Geschlechterstereotypie allerdings sozialpsy-
chologisch, wie noch zu zeigen sein wird. Ebenfalls mit ihrer Mutter teilt
Gerda einen enormen Ehrgeiz bzw. groĂe Ambitionen (vgl. Tb 1, 600) : âSie
war eines jener reizend zielbewuĂten heutigen MĂ€dchen, die auf der Stelle
Omnibusschaffner wĂŒrden, wenn eine allgemeine Idee dies verlangte.â (MoE
309) Indem Musil seiner weiblichen Figur schon in den frĂŒhesten Notizen1085
1085 Vgl. folgende Notiz zu âFrl Zâ : âScheinbar junges MĂ€dchen von heute, sehr zielbewuĂt mit
leichtem Einschlag ins Soziale. Junge Damen wurden zu wohltÀtigem Zweck ohne Schwierig-
keit Omnibusschaffner.â (M VII/3/1)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208