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714 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
âQuatschâ.1124 Daneben lieĂ der junge Musil sich aber auch von Ellen Keys
Aufsatz Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst (1905) inspirieren, den er im
Erscheinungsjahr ausfĂŒhrlich und zunĂ€chst offenbar sogar begeistert im Ar-
beitsheft 11 exzerpiert hatte (Tb 1, 152â169), nach dem Ersten Weltkrieg aber
mit distanzierenden Randglossen wie âDiotimaâ oder sogar âHaĂt erâ versah
(Tb 1, 165 f.).1125
In intellektueller Hinsicht entschieden gewichtiger nicht nur als die provin-
zielle Grazer SalonniĂšre Tyrka-Gebells, sondern auch als die genannten inter-
national erfolgreichen Schriftstellerinnen erschien seinerzeit allerdings die pro-
movierte PĂ€dagogin, Philanthropin und BegrĂŒnderin der (nach ihr benannten)
Schwarzwald-Schule Eugenie â bzw. Genia â Schwarzwald (1872â1940), deren
Salon neben dem von Pauline Metternich-SĂĄndor, dem von Alma Mahler-Wer-
fel und dem von Bertha Szeps-Zuckerkandl als âeiner der wichtigsten Treff-
punkte der Wiener Gesellschaftâ fungierte, âsoweit sie sich fĂŒr Wissenschaft
und Kunst interessierteâ.1126 Eugenie Schwarzwald gilt der Forschung deshalb
auch weniger aufgrund ihrer durchaus beachtlichen geistigen KapazitÀten,
ihres beeindruckenden Lebenslaufs oder der Eigenart ihres Salons, sondern
vor allem aufgrund ihrer organisatorischen Leistungen, ihrer körperlichen Sta-
tur sowie ihrer Ehe mit dem ebenfalls promovierten Sektionschef Hermann
Schwarzwald als wichtigstes biografisches Modell der Musilâschen Figur.1127
Diotima, die Pekar einem âersten Beziehungsfeldâ des Romans zuordnet1128,
ist ânicht viel jĂŒnger als Ulrichâ (MoE 93 ; vgl. MoE 110), also gut 30 Jahre
alt. Bezeichnend ist dabei allerdings, dass âniemandâ ihr genaues Alter kennt.
Mehr noch : â[G]ewöhnlich war der Befragte darĂŒber erstaunt, daĂ er selbst
noch nicht darauf gekommen sei, sich das zu fragen.â (MoE 92) Schon dieser
merkwĂŒrdige Anschein von Zeitlosigkeit lĂ€sst darauf schlieĂen, dass es mit
der prĂ€tendierten âEigenschaftlichkeitâ der âAntike[n] mit einem wienerischen
Plusâ (MoE 187) nicht allzu weit her ist bzw. dass ihre durchaus vorhandenen
Eigenschaften allem Anschein zuwider nicht in einer besonderen âSubstan-
zialitĂ€tâ, sondern in einer sozialisationsbedingten Habitusformung grĂŒnden.
1124 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 859 u. 1714, Anm. 33.
1125 Vgl. ebd., S. 857 f. Mehr dazu bei Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik,
S. 260.
1126 Corino : Musil [2003], S. 860. Genaueres zu den verschiedenen Wiener Salons und ihrer Aus-
richtung findet sich bei Ackerl : Wiener Salonkultur um die Jahrhundertwende, S. 695â706 ;
zur Vorgeschichte vgl. Rossbacher : Literatur und BĂŒrgertum, S. 99â114.
1127 Vgl. dazu Corino : Musil [2003], S. 860â864, sowie die EinschrĂ€nkungen von Howald : Ăsthe-
tizismus und Àsthetische Ideologiekritik, S. 261, Anm. 186.
1128 Vgl. Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 200.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208