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715âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Auf eine fragwĂŒrdige Substanz deutet auch folgende Bemerkung des ErzĂ€hlers
anlÀsslich der ersten Begegnung zwischen ihr und ihrem Cousin Ulrich, die
in ihrer krassen Unvermitteltheit wie ein Stilbruch wirkt : âDie Hand, wel-
che sie ihm reichte, war fett und gewichtslos.â (MoE 93) Generell beschreibt
der ErzĂ€hler ihre körperliche Erscheinung indes als ausgesprochen âschönâ
und prĂ€zisiert, âdaĂ Diotimas Hals mehrere WĂŒlste trug, von zartester Haut
ĂŒberzogen ; ihr Haar war zu einem griechischen Knoten geschlungen, der
starr abstand und in seiner Vollkommenheit einem Wespennest glichâ (MoE
92 f.). Die Ambivalenz dieser Verbindung von Elementen der Zartheit und der
Starre wird zuletzt durch den ĂŒberraschenden Vergleich forciert, der neben
Diotimas kalter Schönheit auch ihre GefÀhrlichkeit signalisiert. Ulrich nennt
sie in seinen Gedanken entsprechend zweideutig âeine Hydra von Schönheitâ
(MoE 95).
Bereits vor ihrer persönlichen Bekanntschaft hat sich Ulrich âschon oft
nach den besondren Eigenschaften dieser Frau erkundigt, aber niemals darauf
befriedigende Antwort erhalten. Es hieĂ entweder : âSie hat eine unbeschreib-
liche geistige Anmutâ oder : âSie ist unsere schönste und gescheiteste Frauâ, und
manche sagen einfach : âSie ist eine ideale Frau !ââ (MoE 91 f.) Die Unmög-
lichkeit einer konkreten charakterlichen Bestimmung suggeriert, dass es sich
auch bei der mit Eigenschaften scheinbar reichlich ausgestatteten Diotima um
eine letztlich âeigenschaftsloseâ Figur handelt. Nicht einmal ein âVerhĂ€ltnisâ
lÀsst sich ihr andichten, wodurch sie eine menschliche SchwÀche an den Tag
legen wĂŒrde : âKein Mensch kĂ€me auf diese Vermutung.â (MoE 92) Ihr Cousin
reagiert auf die vagen Beschreibungsversuche ihrer Umgebung konsequent
ironisch : ââAlso eine geistige Schönheitâ sagte sich Ulrich ; âeine zweite Di-
otima.â Und von diesem Tag an nannte er sie in Gedanken so, nach jener
berĂŒhmten Dozentin der Liebe.â (MoE 92) Um die ironische Namensgebung
Ulrichs1129, die vom ErzÀhler und spÀter inkonsequenterweise auch von ande-
ren Figuren ĂŒbernommen wird1130, zu voller Wirksamkeit gelangen zu lassen,
lÀsst es sich der ErzÀhler nicht nehmen, im Unterschied etwa zur Figur der
(allein von Ulrich so genannten) Bonadea auch den selbst gewÀhlten sowie
den bĂŒrgerlichen Namen der Cousine zum Besten zu geben und deren pre-
kĂ€res AbleitungsverhĂ€ltnis hintergrĂŒndig zu kommentieren : âIn Wirklichkeit
hieĂ sie aber Ermelinda Tuzzi und in Wahrheit sogar nur [!] Hermine. Nun ist
1129 Wie Pekar, ebd., S. 201, erwĂ€hnt, handelt es sich um âdie dritte (und letzte) Figur, der Ulrich
einen Namen gibtâ. In diesem Zusammenhang betont Pekar auch ausdrĂŒcklich, dass dabei
âeher an Platons als an Hölderlins Diotima zu denken istâ (ebd., Anm. 2).
1130 Vgl. dazu Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 262., Anm. 192.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208