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720 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Die âungebrocheneâ, d. h. intellektuell âunverdorbeneâ Frau soll demnach von
wissenschaftlichen Diskursen möglichst unberĂŒhrt bleiben, um den âĂŒberin-
tellektualisiertenâ Mann âerlösenâ zu können â eine damals weit verbreitete
Gedankenfigur, die auch im Mann ohne Eigenschaften gleich an mehreren Stel-
len begegnet (vgl. etwa MoE 834). Soziologisch betrachtet, handelt es sich
hier um ein funktionslos, ja dysfunktional gewordenes Relikt aus der Kultur-
geschichte des Salons : Die Verleugnung der Investition in die eigene Bildung
durch die SalonniĂšre hatte etwa in den Pariser Salons des 17. Jahrhunderts
noch eine emanzipatorische Funktion, war sie dort doch eine habituelle Vo-
raussetzung jenes adeligen Ideals einer interesselosen Kultur, die allein auf
konfliktfreier Kommunikation zu beruhen und zugleich genuin âweiblichâ zu
sein schien. Sie ermöglichte der SalonniĂšre einen âlegitimenâ Erwerb sozialen
Kapitals, diente unter der Hand somit der eigenen Karriere und versprach
auch den mit ihr verkehrenden MĂ€nnern und Frauen einen entsprechenden
Profit.1135 Diotimas Bildung wirkt nun in Analogie dazu sowie in Ăbereinstim-
mung mit den historischen Wiener Salondamen um 19001136 zwar ebenfalls
nicht pedantisch, also nicht durch Arbeit erworben â ein Effekt, den sie da-
durch noch steigert, dass sie âDamenâ ohne entsprechende Bildung oder gar
IntellektualitÀt um sich schart. Auf diese Weise erscheint ihr aus dem Eltern-
haus eines Mittelschullehrers sozial ererbter Bildungseifer als ânatĂŒrlichâ und
nur einer einzigartigen âweiblichenâ Intuition geschuldet. Dieser Anschein, der
zu Beginn der europÀischen Kulturgeschichte des Salons im französischen 17.
Jahrhundert noch emanzipatorische Wirkung zu entfalten vermochte, ist je-
doch im frĂŒhen 20. Jahrhundert, als Frauenrechtlerinnen wie Marianne Hai-
nisch und Auguste Fickert in Wien den allgemeinen Mittelschul- und Hoch-
schulzugang fĂŒr Angehörige beiderlei Geschlechts forderten1137 â also fĂŒr eine
öffentliche Institutionalisierung massenwirksamer Möglichkeiten weiblicher
Bildung eintraten â, lĂ€ngst rĂŒckstĂ€ndig geworden, weil damit die Emanzi-
1135 Vgl. etwa Becker : Liebe, bes. S. 636 f.; ders.: Mann und Weib â schwarz und weiĂ, S. 15 f. u.
100 f. Folgende Standardwerke zur Kultur- und Sozialgeschichte der Salons sowie zu der darin
vorangetriebenen weiblichen Emanzipationsbewegung seien hier zumindest genannt : fĂŒr das
17. Jahrhundert Lougee : Le Paradis des Femmes ; Baader : Dames de Lettres ; fĂŒr das 18. Jahr-
hundert Badinter : Les passions intellectuelles.
1136 Vgl. Ackerl : Wiener Salonkultur um die Jahrhundertwende, S. 696, ĂŒber Pauline Metternich :
âIhr gesamtes Weltbild, sowohl politisch als auch kulturell, bestimmend war sicherlich ihre
WertschĂ€tzung fĂŒr Formen des gesellschaftlichen Umganges. [âŠ] Ihre Erziehung erfolgte in
dem Sinne, daĂ âBildung ⊠die Formung des ganzen Menschenâ bedeutet. AnhĂ€ufung von
Wissensgut galt als entbehrlich, die âhöhere Geselligkeitâ [âŠ], der Umgang in vollendeter
Form war letztlich eine seit Generationen erarbeitete und inzwischen bewĂ€hrte Lebensform.â
1137 Vgl. etwa Rossbacher : Literatur und BĂŒrgertum, S. 39â44.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208