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724 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
sublimieren. Sie will dementsprechend âeine ganz groĂe Idee verwirklichenâ,
kann sich darunter aber gar nichts âBestimmtesâ vorstellen (MoE 93), wie der
ideologiekritische ErzÀhler maliziös bemerkt.1149 Im Rahmen der Parallelak-
tion strebt sie zunĂ€chst nichts Geringeres an als âeine Nation, ja eigentlich die
ganze Welt [âŠ] dazu aufrufen zu dĂŒrfen, daĂ sie sich inmitten eines materi-
alistischen Treibens auf das Geistige besinneâ ; aus voller Ăberzeugung pole-
misiert sie daher in ihrer âgeistige[n] Thronredeâ gegen die âseelenlose, bloĂ
von Logik und Psychologie beherrschte Zeitâ (MoE 94), weiĂ dieser aber wie-
derum kaum mehr als billige Schlagworte entgegenzusetzen bzw. eine hyper-
trophe, pathetische Redeweise voller Klischees, die Bettina Leue treffend ana-
lysiert hat.1150 Carola Groppe hat deshalb zu Recht von einem âinhaltslosen
Idealismusâ gesprochen, âdessen BanalitĂ€t Musil in Diotimas scheiternder Su-
che nach der groĂen Idee fĂŒr die Parallelaktion herausstelltâ.1151 Wie Groppe
des Weiteren zeigt, verfolgt Diotima mit ihrem âProjekt der groĂen Idee als
Vereinigung aller Divergenz [âŠ] letztlich ein Projekt zur Aufhebung der Wi-
dersprĂŒche in der Moderneâ1152, das von vornherein zum Scheitern verurteilt
ist. TatsĂ€chlich berichtet der ErzĂ€hler : âDiotima hĂ€tte sich ein Leben ohne
ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu
ihrer Verwunderung, daĂ es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt.â
(MoE 229) Trost und Halt bietet Diotima in dieser verwirrenden Situation
ironischer- und zugleich verhÀngnisvollerweise allein der Ehemann, der Ur-
sprung ihrer ganzen Misere :
Darum hat der vernĂŒnftige Mensch, und das war in diesem Fall Sektionschef Tuzzi,
der dadurch sogar eine gewisse Ehrenrettung erfuhr, ein tief eingewurzeltes MiĂ-
1149 Vgl. den ironischen Kommentar : âNein, Diotima dachte nicht an etwas Bestimmtes. Wie
hĂ€tte sie das auch tun können ! Niemand, der vom GröĂten und Wichtigsten der Welt spricht,
meint, daĂ es das wirklich gebe. Aber welcher sonderbaren Eigenschaft der Welt kommt das
gleich ? Alles lĂ€uft darauf hinaus, daĂ das eine gröĂer, wichtiger oder auch schöner oder trauri-
ger ist als das andere, also auf eine Rangordnung und einen Komparativ, und dazu gibt es nun
keine Spitze und keinen Superlativ ? Macht man jedoch jemand, der gerade vom Wichtigsten
und GröĂten sprechen will, darauf aufmerksam, so faĂt er das MiĂtrauen, es mit einem gefĂŒhl-
losen und unidealistischen Menschen zu tun zu haben.â (MoE 94) An anderer Stelle heiĂt es,
es handle sich bei Diotimas Bestrebungen (in Schillerâscher Manier) âum nichts Geringeres,
als jene menschliche Einheit wiederzufinden, welche durch die so sehr verschieden geworde-
nen menschlichen Interessen verlorengegangen seiâ (MoE 178).
1150 Vgl. Leue : Diotima : âSeelenriesinâ und âRiesenhuhnâ, bes. S. 332â334.
1151 Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 79 ; vgl. auch Neymeyr : Psychologie als Kul-
turdiagnose, S. 270â285.
1152 Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 79.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208