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725âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
trauen gegen ewige Wahrheiten ; er wird zwar niemals bestreiten, daĂ sie unentbehr-
lich seien, aber er ist ĂŒberzeugt, daĂ Menschen, die sie wörtlich nehmen, verrĂŒckt
sind. Nach seiner Einsicht â die er seiner Gattin hilfreich darbot â, enthalten die
menschlichen Ideale ein UnmaĂ der Forderung, das ins Verderben fĂŒhren muĂ, wenn
man es nicht schon von vornherein nicht ganz ernst nimmt. Als den besten Beweis
dafĂŒr fĂŒhrte Tuzzi an, daĂ solche Worte wie Ideal und ewige Wahrheit in BĂŒros, wo
es sich um ernste Dinge handelt, ĂŒberhaupt nicht vorkommen ; einem Referenten,
der es sich einfallen lieĂe, sie in einem Akt anzuwenden, wĂŒrde augenblicklich nahe-
gelegt werden, sich zur Erlangung eines Erholungsurlaubes amtsÀrztlich untersuchen
zu lassen. Aber Diotima, wenn sie ihm auch wehmĂŒtig zuhörte, schöpfte aus solchen
Stunden der SchwÀche am Ende doch wieder neue Kraft, sich in ihre Studien zu
stĂŒrzen. (MoE 229 f.)
Es handelt sich also auch hier um eine Doublebind-Situation â allerdings um
eine ganz anders geartete als bei Bonadea : Diotima findet nÀmlich nur in der
unbefriedigenden Ehe, die doch am Anfang ihres kompensatorischen Idealis-
mus steht und diesen erst auslöst, jenen emotionalen RĂŒckhalt, der ihr erlaubt,
den mangelnden Erfolg ihrer idealischen Bestrebungen weiter zu ertragen. In-
sofern ĂŒberrascht es nicht, dass ihr Idealismus selbst eine VerĂ€nderung erfĂ€hrt :
Diotimas Streben nach dem Ideal machte [âŠ] eine wichtige Wandlung durch. Dieses
Streben war nie ganz sicher von der korrekten Bewunderung groĂer Dinge zu un-
terscheiden gewesen, es war ein vornehmer Idealismus, eine dezente Gehobenheit,
und da man in den gegenwĂ€rtigen robusteren Zeiten kaum noch weiĂ, was das ist,
mag einiges davon in KĂŒrze noch einmal beschrieben werden. Er war nicht sachlich,
dieser Idealismus, weil Sachlichkeit handwerksmĂ€Ăig und Handwerk immer unsau-
ber ist ; er hatte vielmehr etwas von der Blumenmalerei von Erzherzoginnen, denen
andere Modelle als Blumen unangemessen waren, und ganz bezeichnend fĂŒr diesen
Idealismus war der Begriff Kultur, er fĂŒhlte sich kulturvoll. Man konnte ihn aber auch
harmonisch nennen, weil er alle Unausgeglichenheit verabscheute und die Aufgabe
der Bildung darin sah, die leider in der Welt vorhandenen rohen GegensÀtze in Har-
monie miteinander zu bringen ; mit einem Wort, er war vielleicht gar nicht so sehr
verschieden von dem, was man noch heute â allerdings nur dort, wo man an der
groĂen bĂŒrgerlichen Ăberlieferung festhĂ€lt, â unter einem gediegenen und sauberen
Idealismus versteht, der ja sehr zwischen GegenstÀnden unterscheidet, die seiner
wĂŒrdig, und solchen, die es nicht sind, und aus GrĂŒnden der höheren HumanitĂ€t
keineswegs an die Ăberzeugung der Heiligen (und der Ărzte und Ingenieure) glaubt,
daĂ auch in den moralischen AbfĂ€llen unausgenĂŒtzte himmlische Heizkraft stecke.
(MoE 331)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208