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728 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Von solchen (in ihrer Bildlichkeit latent misogynen) Worten finden sich Di-
otimas gewaltige idealistische Aspirationen bereits gerichtet, bevor sie ĂŒber-
haupt erzĂ€hlerisch entwickelt wurden, und selbst ihre vom ErzĂ€hler ausdrĂŒck-
lich hervorgehobene Kinderlosigkeit1157, die â anders als das intellektuelle
Niveau ihres Denkens â dem Modell Eugenie Schwarzwalds entspricht1158,
kann daran wenig Àndern. Wie ein Antidot wirkt dagegen Musils PlÀdoyer
fĂŒr eine neue weibliche âNĂŒchternheitâ im Essay Die Frau gestern und morgen :
Der ansonsten problematisierte âWirklichkeitssinnâ wird darin als vielleicht
âdas Wichtigsteâ der âFrau von morgenâ nicht nur gebilligt, sondern sogar aus-
drĂŒcklich legitimiert : âIch stehe nicht auf seiten derer, die ĂŒber die NĂŒchtern-
heit der jungen Frauen klagen.â (GW 8, 1198) Wie oben gezeigt wurde, ist
ein funktionierender âWirklichkeitssinnâ Musil zufolge die Voraussetzung dafĂŒr,
dass der erwĂŒnschte âMöglichkeitssinnâ nicht ins Phantastische abgleitet1159 ;
genau dieser âWirklichkeitssinnâ fehlt Diotima jedoch. FĂŒr sein Votum zuguns-
ten des âWirklichkeitssinnsâ der âneuen Frauâ1160 reicht Musil aber noch ein
weiteres Argument nach, das seinerseits wieder essayistisches Potenzial birgt :
âDer menschliche Körper ist auf die Dauer auĂerstande, sich nur als Emp-
fĂ€nger von Sinnesreizungen zu fĂŒhlen, er geht immer dazu ĂŒber, Darsteller,
Schauspieler seiner selbst zu sein, in allen VerhĂ€ltnissen, in die er gerĂ€tâ (GW
8, 1198). Nachdem aber die Frau âdurch Jahrhunderte dazu verurteilt war, das
Ideal eines anderen zu spielenâ (GW 8, 1198), ist es fĂŒr sie nicht so einfach, die
kollektiv habitualisierte Ausrichtung am Ideal einfach abzulegen und ânĂŒch-
ternâ zu werden. Am Beispiel seiner Diotima-Figur exemplifiziert Musil, zu
welchen absurden und lÀcherlichen, auf lÀngere Sicht aber auch gefÀhrlichen
intellektuellen Verrenkungen eine ungebremste, schauspielerisch noch ver-
stĂ€rkte âIdeologisierungâ fĂŒhren kann, die aus einer ausbleibenden Beachtung
ganz fundamentaler menschlicher BedĂŒrfnisse auf Seiten der Frauen erwĂ€chst
und in diesem Fall zur PrĂ€tention essenziellster âEigenschaftlichkeitâ ausartet.
So kultiviert Diotima nicht erst im empfindsamen Gedanken- und GefĂŒhls-
austausch mit Arnheim die emphatische Rede von der âSeeleâ, die in der Mo-
derne âverlorengegangenâ sei (MoE 103). Sie stĂŒtzt sich dabei auf eine exten-
sive LektĂŒre, die zunĂ€chst âin der gebatikten Metaphysik Maeterlincksâ1161
1157 So erwĂ€hnt er hinsichtlich des âstolzen Körper[s]â Diotimas, dass er ânoch nie geboren hatteâ
(MoE 810).
1158 Vgl. Corino : Musils Diotima, S. 594 ; zu Eugenie Schwarzwalds Wissbegierde und intellektuel-
lem Niveau ebd., S. 592.
1159 Vgl. Kap. I.3.2.
1160 Vgl. auch Fanelli : âDie Frau gestern und morgenâ, S. 193.
1161 Zu der in dieser abschÀtzigen Formulierung und in weiteren Anspielungen und Zitaten zum
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208