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729âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
und âin Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von DĂŒnnromantik
und Gottessehnsuchtâ (MoE 103) der Zeit um 1900 einen affirmativen Be-
zugspunkt der eigenen Unzufriedenheit findet. Howald hat in diesem Zu-
sammenhang kritisch bemerkt, dass Musil Diotima âvon Beginn an [âŠ] als
VerkĂŒnderin angelesener Theorienâ einfĂŒhrt : âDamit unterscheidet sie sich si-
gnifikant von den MĂ€nnerfiguren, welche ihre Weltanschauung zwar aufgrund
ihres sozialen Status in bestimmter Weise, aber dennoch sozusagen autonom
geformt haben.â1162 Howalds Diagnose wirkt auf den ersten Blick bestechend ;
die ihr innewohnende Problematik offenbart sich allerdings in der merkwĂŒr-
dig unentschiedenen und letztlich wenig stichhaltigen Rede von einer âsozu-
sagen autonomenâ Formung mĂ€nnlicher âWeltanschauungâ. Diotimas Streben
nach Emanzipation wird nÀmlich nicht automatisch schon dadurch entwertet,
dass sie sich dabei wiederum auf eine angelesene Ăberzeugung beruft â sonst
wĂ€re jede durch LektĂŒre beförderte AufklĂ€rung von vornherein diskreditiert.
Wenn Musil Diotimas kulturelles Kapital allem gegenteiligen Anschein zum
Trotz als âerworbenâ erscheinen lĂ€sst, dann konstruiert er einen Kontrast we-
niger zum mÀnnlichen Romanpersonal, sondern vielmehr zu jener von Di-
otima selbst vertretenen antiemanzipatorischen Ideologie, der zufolge Frauen
im Salon angeblich nur ohne âpedantischeâ Gelehrsamkeit und IntellektualitĂ€t
âungebrochenâ seien ; jede Form weiblicher Kultur mĂŒsste demnach nĂ€mlich
ihre eigenen sozialen Erwerbungsbedingungen verleugnen.
In gendertheoretischer Hinsicht kann Howalds Beobachtung also nur
dahingehend fruchtbar gemacht werden, dass sie die Gestalt- und Eigen-
schaftslosigkeit der weiblichen Figur besonders augenfÀllig veranschau-
licht.1163 ProduktionsÀsthetisch spiegelt sich dieser Sachverhalt darin, dass
ganze Passagen der âBeschreibungen und Urteileâ Diotimas âpraktisch voll-
stĂ€ndig und sehr oft wörtlichâ dem erwĂ€hnten Musilâschen Key-Exzerpt
âentnommenâ sind oder einem Maeterlinck-Exzerpt aus dem Arbeitsheft
21 (Tb 1, 587â590) entstammen.1164 TatsĂ€chlich liest Diotima âmit Verant-
wortungsbewuĂtsein und in dem Bestreben, sich aus dem, was sie Kultur
nannte, eine Hilfe in der nicht leichten gesellschaftlichen Lage zu bilden,
Ausdruck kommenden âpersönlichen Abrechnung Musils mit dem einstmals geschĂ€tzten Au-
tor, dessen Werk er immerhin das Motto zum âTörlessâ entnahmâ, vgl. Howald : Ăsthetizismus
und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 264â266.
1162 Ebd., S. 264.
1163 Vgl. ebd., S. 268â270, die Ă€uĂerst kritischen Bemerkungen sowie Schwartz : Musils Frauenbild,
S. 322 f.
1164 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 266 u. 283, Anm. 232 ; zum Maeter-
linck-Exzerpt auch Arntzen : Musil-Kommentar, S. 265.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208