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731âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
lierungen unmittelbar in den Romantext eingegangen sind, wie zahlreiche
Zitate des Kapitels II/23 zeigen ; so berichtet Musils ErzÀhler wiederum iro-
nisch,
daĂ unsere Zeit, der sich vermutlich der Begriff der Liebesleidenschaft entrĂŒckt hat,
weil er eher ein religiöser als ein sexueller ist, es als kindisch verschmÀht, sich noch
mit der Liebe zu beschĂ€ftigen, dafĂŒr aber ihre Anstrengungen an die Ehe wendet,
deren natĂŒrliche VorgĂ€nge sie in allen Abwandlungen mit frischer AusfĂŒhrlichkeit
untersucht. Schon damals waren viele jener BĂŒcher entstanden, die mit dem reinen
Sinn eines Turnlehrers von den âUmwĂ€lzungen im Geschlechtslebenâ sprechen und
den Menschen dazu verhelfen wollen, verheiratet und dennoch vergnĂŒgt zu sein. In
diesen BĂŒchern hieĂen Mann und Frau nur noch âder mĂ€nnliche und der weibliche
KeimtrĂ€gerâ oder auch âdie Geschlechtspartnerâ, und die Langweile, die zwischen ih-
nen durch allerhand geistig-körperliche Abwechslung vertrieben werden sollte, taufte
man âdas sexuelle Problemâ. (MoE 882)
Bei den von Musil selbst als Zitat gekennzeichneten Stellen handelt es sich
zumeist um mehr oder weniger unverĂ€ndert ĂŒbernommene Formulierungen
aus Lazarsfelds Untersuchung1167, woraus Diotima (zumindest nach dem Be-
richt Bonadeas) noch etliche andere charakteristische Begriffskombinationen
â wie âTheorie des âFiaskoââ (MoE 885)1168 â und sogar ganze SĂ€tze zitiert.
Wie Bonadea Ulrich mitteilt, Ă€uĂert dessen Kusine sich etwa zur âvergifteten
SexualatmosphĂ€reâ ihrer Ehe mit Tuzzi nicht ohne unfreiwillige Komik :
[W]enn sie diese AtmosphÀre retten soll, so geht das nur noch so, daà Tuzzi und
sie ihr Handeln auf das sorgfĂ€ltigste ĂŒberprĂŒfen. Es gibt da keine allgemeinen Re-
geln. Man muĂ sich bemĂŒhen, den anderen in seinen Lebensreaktionen zu beobach-
ten. Und um richtig beobachten zu können, muà man eine gewisse Einsicht in das
Geschlechtsleben haben. Man muĂ die praktisch erworbene Erfahrung mit dem
Niederschlag theoretischer Forschung vergleichen können [âŠ]. Es gibt eben heute
gen Raum sexualwissenschaftliche VortrÀge und Seminare hielt. 1934 wurde sie wegen ihres
Engagements fĂŒr die Wiener Sozialdemokratie kurzzeitig verhaftet.
1167 Die gekennzeichneten Stellen stammen (in der Reihenfolge ihrer Zitation) aus Lazarsfeld :
Wie die Frau den Mann erlebt, S. 100, 18, 158 u. 102. Musil exzerpiert daraus die Rede vom
âGeschlechtslebenâ (M VII/14/61), die Formulierung âvon mĂ€nnlichen und weiblichen Keim-
trĂ€gernâ (M VII/14/58) sowie jene von dem â heute in die Alltagssprache ĂŒbergegangenen
â âGeschlechtspartnerâ (M VII/14/66 ; vgl. M V/2/144 u. 147).
1168 Die Formulierung bezieht sich auf eine Passage aus Stendhals groĂem Essay De lâamour, die
Lazarsfeld : Wie die Frau den Mann erlebt, S. 96 f., wiedergibt (vgl. M VII/14/61).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208