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734 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
zur âAbwehr dieses gelehrten Angriffsâ nur der Ausweg einer ablenkenden
Antwort (MoE 821).
Diotimas neue, sexualwissenschaftlich inspirierte Sicht der Dinge krankt
weniger an einer prinzipiellen Unangemessenheit ihrer emanzipatorischen
Bestrebungen in Sachen Partnerschaft und SexualitÀt, sondern allererst an
dem, was Foucault in seiner Histoire de la sexualitĂ© als spezifische EigentĂŒm-
lichkeit â und in mancher Hinsicht eben auch als Defizit â der modernen
westlichen Gesellschaften beschrieben hat :
Unsere Zivilisation besitzt, zumindest auf den ersten Blick, keine ars erotica. DafĂŒr ist
sie freilich die einzige, die eine scientia sexualis betreibt. Beziehungsweise die einzige,
die im Lauf von Jahrhunderten, um die Wahrheit des Sexes zu sagen, Prozeduren ent-
wickelt hat, die sich im wesentlichen einer Form von Macht-Wissen unterordnen, die
der Kunst der Initiationen und dem Geheimnis des Meisters streng entgegengesetzt
ist [âŠ].1177
Nach Foucaults historischer Diagnose wurde in den modernen westlichen Ge-
sellschaften die genuin medizinische scientia sexualis der ars erotica (im Sinne
einer Lebenskunst) vorgeordnet, indem
man um den Sex herum einen unĂŒbersehbaren Apparat konstruiert hat, der die
Wahrheit produzieren soll â wenn er sich auch im letzten Augenblick verhĂŒllt. Ent-
scheidend ist, daĂ der Sex nicht nur eine Angelegenheit von GefĂŒhl und Lust, Gesetz
und Verbot, sondern ebenfalls eine von wahr und falsch, daĂ die Wahrheit des Sexes
eine wesentliche Sache, eine nĂŒtzliche und bedrohliche, wertvolle oder zweifelhafte
Sache geworden ist, kurz, daĂ der Sex zum Einsatz im Wahrheitsspiel geworden
ist.1178
brauchbare Möglichkeiten fĂŒr eine harmonischere und reichere Gestaltung unseres Ge-
schlechts- und besonders des Ehelebens zu findenâ. Sie postuliert : âEntscheidend fĂŒr einen
glĂŒcklichen Verlauf jeder Liebes- und Ehegemeinschaft ist die Anerkennung der seelischen
Eigenpersönlichkeit des Partners und seines unantastbaren Rechtes auf eigene Liebesbedingun-
genâ (S. 8). In Musils Exzerpten wird dementsprechend eine â[h]armonischere und reichere
Gestaltung des Geschlechts- und Ehelebensâ versprochen, und weiter heiĂt es (mit einer
wohl unwillentlichen Vertauschung am Ende des Zitats) : âEntscheidend fĂŒr den glĂŒcklichen
Verlauf jeder Liebes- und Ehegemeinschaft ist die Anerkennung der seelischen Eigenpersön-
lichkeit des Partners und seines eigenen Rechtes auf unantastbare Liebesbedingungen.â (M
VII/14/58)
1177 Foucault : Der Wille zum Wissen, S. 75.
1178 Ebd., S. 73.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208