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738 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
raturwissenschaft intensiver mit Agathe beschĂ€ftigt1191, dabei â wie so hĂ€ufig
â âallerdings eher die Musilsche Psyche denn die Bedeutung des zentralen
Themenkomplexes Geschwisterliebe und der Figur Agathe im Universum
des Romansâ erhellt.1192 Diese von Astrid Zingel mittlerweile sĂ€mtlich ver-
worfenen1193, weil zu eindimensionalen und zu einseitig auf den mÀnnlichen
Protagonisten fokussierten Interpretationen, die die konstitutive FiktionalitÀt
romanesker Figurenkonstruktionen entweder auĂer Acht lassen oder aber
ĂŒberstrapazieren1194, sollen im Folgenden keine Rolle mehr spielen. Die im
Einzelnen durchaus beachtenswerten Ergebnisse der Àlteren Forschung wer-
den indes dort ĂŒbernommen, wo es sinnvoll erscheint.
Biografische Anregungen fĂŒr die erzĂ€hlerische Konstitution Agathes be-
zieht Musil aus den Berichten ĂŒber seine am 15. Januar 1876 geborene Ă€ltere
Schwester Elsa, die knapp einjĂ€hrig am 5. Dezember 1876 â also fast genau
vier Jahre vor seiner eigenen Geburt â gestorben ist und einen Fixpunkt seiner
affektiven Projektionen bildete1195, sowie vor allem aus der Lebensgeschichte
seiner Frau Martha, geborener Heimann und geschiedener Marcovaldi1196, die
1191 Vgl. etwa Scheller : Musils Briefe â1901 bis 1942â, S. 82 f., sowie die recht kapriziösen Ăberle-
gungen in Hehner : Erkenntnis und Freiheit, S. 409â418.
1192 Zingel : Ulrich und Agathe, S. 62.
1193 Vgl. ebd., S. 62â64. Zingel macht es sich allerdings insofern leicht, als sie gewisse interpre-
tatorische Aspekte der Forschung ĂŒberpointiert, um sie in der Folge umso wirkungsvoller
falsifizieren zu können.
1194 Weder gibt Musils Romantext einen belastbaren Hinweis darauf, dass die Figur der Agathe
âwomöglich nur in der Vorstellungswelt Ulrichs existiereâ (ebd., S. 62), noch lĂ€sst sie sich auf
einen einzelnen Aspekt der Ulrich-Figur als deren âExternalisierungâ (ebd., S. 63) beschrĂ€n-
ken. Im Unterschied zu Zingel wird im Folgenden allerdings durchaus angenommen, dass
âAgathe auf gleicher oder Ă€hnlicher Ebene wie die anderen Romanfiguren des Romanpro-
jektes angesiedelt istâ (ebd., S. 62), denn eine AuffĂ€cherung der Handlung in unterschiedliche
diegetische Ebenen ist nirgends ersichtlich. Dies bedeutet freilich nicht, dass auch die narrati-
ven Funktionen solcher auf einer diegetischen Ebene angesiedelten Romanfiguren identisch
wÀren.
1195 In den autobiografischen Notizen des Arbeitshefts 33 erwĂ€hnt Musil âmeine vor meiner Ge-
burt gestorbene Schwester [Elsa], mit der ich einen gewissen Kultus trieb. Ersichtlich sind das
ZusammenhÀnge ! (Ich trieb in Wahrheit keinen Kultus ; aber diese Schwester interessierte
mich. Dachte ich manchmal : wie, wenn sie noch am Leben wĂ€re ; ihr stĂŒnde ich am nĂ€chs-
ten ? Setzte ich mich an ihre Stelle ? Es bestand kein AnlaĂ dazu. Ich erinnere mich allerdings
aus der âKittelzeitâ, daĂ ich manchmal auch ein MĂ€dchen sein wollte. Ich möchte das fĂŒr eine
Reduplikation der Erotik halten. [âŠ] (LebensgefĂ€hrtin))â (Tb 1, 952 f.; H 33/99). Vgl. dazu
Blanchot : Musil, S. 199 ; Scheller : Musils Briefe â1901 bis 1942â, S. 82 f.; Hehner : Erkenntnis
und Freiheit, S. 409 f.; Zingel : Ulrich und Agathe, S. 62 ; Corino : Musil [2003], S. 23, 31 u. 59.
1196 Vgl. ebd., S. 44, 527, 556, 904â907, 995 u. passim.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208