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739âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
er angeblich ebenfalls âseine Schwester zu nennenâ pflegte.1197 Die Agathe des
Romans ist 27 Jahre alt, somit fĂŒnf Jahre jĂŒnger als Ulrich (vgl. MoE 673, 720
u. 853), teilt mit ihm aber viele körperliche Eigenheiten :
Sie paĂten in der GröĂe zusammen. Agathes Haar war heller als seines, aber von der
gleichen duftigen Trockenheit der Haut [âŠ]. Ihre Brust ging nicht in BrĂŒsten verlo-
ren, sondern war schlank und krÀftig, und die Glieder seiner Schwester schienen die
lang-schmale Spindelform zu haben, die natĂŒrliche LeistungsfĂ€higkeit mit Schönheit
vereint. (MoE 676)
Die Schwester ist demnach wie ihr Bruder groĂ, blond und schlank und hat â
anders etwa als dessen zeitweilige Geliebte Bonadea (vgl. MoE 525) â keine
auffallenden BrĂŒste, was ihr eine sportliche Ausstrahlung verleiht ; im Unter-
schied zu Ulrich verabscheut sie aber ihren eigenen Angaben zufolge jede Art
von Sport1198, obwohl sie â[e]in wenig Tennisâ spielt (MoE 676), und markiert
somit âdie narzistisch besetzte Stelleâ, âdie Ulrichs widersprĂŒchliches Selbst-
verhĂ€ltnis begrĂŒndetâ1199. In Agathes athletischem Körperbau manifestiert sich
zudem die von ihr gleichsam idealtypisch verkörperte affirmative Musilâsche
Konstruktion androgyner Weiblichkeit, die dem allgemeinen Frauenideal der
Zwischenkriegszeit entspricht, wĂ€hrend ihre ausdrĂŒcklich erwĂ€hnte ableh-
nende Haltung gegenĂŒber dem Sport zugleich eine ausgeprĂ€gte Idiosynkrasie
gegenĂŒber gesellschaftskonformer DiĂ€tetik signalisiert. Folgt man den wenig
verstĂ€ndnisvollen Andeutungen des gemeinsamen Vaters, dann hat sie ĂŒber-
haupt einen schwierigen âCharakterâ, der es ihr beispielsweise nicht erlaube,
Wohlbefinden, Zufriedenheit oder gar GlĂŒck einfach âzuzugebenâ (MoE 673 ;
vgl. MoE 79). Dementsprechend tÀuscht sie gleich am Tag der Ankunft Ul-
richs vor, an âMigrĂ€neâ zu krĂ€nkeln, weshalb sie ihn nicht vom Bahnhof ab-
1197 Wilkins : Gestalten und ihre Namen, S. 49 ; vgl. Tb 1, 339 (dazu der Kommentar Frisés in Tb 2,
197, Anm. 112).
1198 Dies ist fĂŒr eine gendertheoretisch interessierte LektĂŒre insofern von Relevanz, als âes bei
Frauenâ â so zumindest Bourdieu : Die mĂ€nnliche Herrschaft, S. 119 â âdurch das intensive Be-
treiben einer Sportart [âŠ] zu einer tiefgreifenden VerĂ€nderung der subjektiven und objektiven
Erfahrung des Körpersâ kommt : âEr hört auf, bloĂ fĂŒr andere oder, was auf dasselbe hinaus-
lĂ€uft, fĂŒr den Spiegel zu existieren [âŠ]. Er ist nicht mehr nur ein Ding, das dazu geschaffen
ist, betrachtet zu werden, oder das man betrachten muĂ, um es fĂŒr das Betrachtetwerden zu-
rechtzumachen. Er verwandelt sich aus einem Körper fĂŒr andere in einen Körper fĂŒr sich, aus
einem passiven, der Aktion der anderen ausgesetzten Körper in einen aktiven, selbsttÀtigen
Körper.â Genau diese emanzipatorische ErfahrungsverĂ€nderung hat bei Agathe offenbar nicht
stattgefunden.
1199 Vgl. Fleig : Körperkultur und Moderne, S. 236 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208